Verhinderung der Anwendung des Rechtsstaats-Mechanismus bisher
Die Anwendung des Rechtsstaats-Mechanismus blieb bisher aus. Denn einerseits war Einstimmigkeit aller Regierungschefs (mit Ausnahme des betroffenen Landes) Voraussetzung. Andererseits verhinderten Drohungen der angeklagten Länder eine Anwendung.
Veränderung der Regel: Einführung einer Rechtsstaatlichkeits-Konditionalität
Nun gibt es eine partielle Einigung. Sie bezieht sich auf Gelder aus dem EU-Haushalt und nur auf diese Gelder und deren Verwendung. Unterhändlern vom Rat der Regierungschefs (Vorsitz derzeit Frau Merkel!) und dem Parlament erzielten diese sehr begrenzte Einigung. Eine Zustimmung in den beiden Gremien gilt als Formsache.
Es wird also ein Konditionalmechanismus eingeführt. Der soll die Verwendung von EU-Geldern im Empfängerland gebunden an den Auszahlungszweck nun sicher machen. Droht ein Missbrauch der Gelder wegen „Brüchen der Rechtsstaatlichkeit“, könnten Sanktionen finanzieller Art verhängt werden. Aber nur wenn 15 Länder zustimmen, die gleichzeitig 65% der EU-Bevölkerung repräsentieren. Zunächst aber muss die Kommission einen Verstoß feststellen! Empfiehlt sie dann eine Kürzung Brüsseler Gelder, so muss sich der Rat, ggfs. der Ministerrat innerhalb eines Monats damit befassen. Auch das ist auch neu.
Verzögerungen durch das betroffene Land
Zwar kann sich das betroffene Land auch dagegen wehren. Es kann das Verfahren verzögern, indem es das Thema auf die Tagesordnung eines Treffens der Staats- und Regierungschefs setzt. Blockieren kann es das Verfahren aber nicht. Insgesamt darf es bis zu einer letztgültigen Entscheidung nicht mehr als zwei Monate dauern. Das ggfs. verurteilte Land aber muss seine Beiträge nach Brüssel weiter abliefern.
Dies ist ein Einstieg in eine Sanktionsmöglichkeit. Dieser ist getragen von dem Bemühen, zumindest das Versickern von Fördermitteln in dunklen Taschen (meist von Regierungsmitgliedern und ihren „Buddys“) zu verhindern. Ob ein Verfahren kommt, ist aber eine andere Frage:
Erfahrungsgemäß ist aber die Kommission ebenso wie der Rat wesentlich zögerlicher als das Parlament bei der Einleitung eines Verfahrens.
Weitere Einschränkung der Anwendung
Allerdings sollen „Endempfänger“ nicht „für die Verfehlungen ihrer Regierungen bestraft werden“. Das heißt, Leistungen, die z.B. Studenten oder Landwirten oder NGOs in diesen Staaten zu Gute kommen, sollen „weiterhin die ihnen versprochenen Gelder erhalten können“.
Unsere Anmerkung dazu: ausgerechnet das Gros der Landwirte in Ungarn ist durch Orban zu seinem Besitz gekommen. Gerade diese „Unternehmer“ kamen zu übergroßen Ländereien, die bisher massiv durch die Gelder aus dem Brüsseler Agraretat profitiert haben und durch Orban zu Oligarchen wurden.
Unsere Prognose: Dieser Passus wird den Rechtsstaatsmechanismus in vielen Fällen bis zur Unwirksamkeit entschärfen.
zur Verabschiedung vgl. Die Zeit;
Stellungnahme des EU-Parlamentes zur Verabschiedung im Dez. 2020
In der Veröffentlichung des EU-Parlamentes heißt es: Die Vertreter des Parlaments hätten nun sicherstellen können, dass der Mechanismus auch bei Verstößen gegen Grundwerte zum Tragen kommen soll. „In den Verhandlungen gelang es den Europaabgeordneten auch, eine spezifische Bestimmung durchzusetzen, die den möglichen Umfang der Verstöße durch die Auflistung von Fallbeispielen verdeutlicht, wie z.B. die Bedrohung der Unabhängigkeit der Justiz, das Versäumnis, willkürliche/rechtswidrige Entscheidungen zu korrigieren und die Einschränkung von Rechtsbehelfen“. Wenn diese Vereinbarung insgesamt so verabschiedet würde und noch dazu vom Rat der Staats- und Regierungschefs in konkreten Fällen angewendet werden würde, wäre das weit mehr als e i n Schritt vorwärts. Es wäre dann ein Ende der Blockade und ein grundlegender Fortschritt, der die EU stärken würde.
Kritische Stellungnahmen
Wir halten diese Einschätzung für zu optimistisch. Aber natürlich ist die Beendigung der Blockade aller durch Polen und Ungarn gut. Nun können die Gelder des Corona-Hilfsfonds – wenn auch verspätet – zumindest ausgezahlt werden. Ganz anderer Meinung ist hier ein Korrespondent von der Zeit.
Gefragt, wie man die „Geiselnahme“ aller EU-Länder durch Mitgliedsstaaten in Zukunft verhindern könne, antwortet Sergey Lagodinsky, stellv. Vorsitzenden des EU-Rechtsausschusses:
„Wir müssen eine unbequeme Wahrheit aussprechen. Die EU ist an dieser Stelle strukturell unterentwickelt und für jede Verbesserung brauchen wir eben die Zustimmung derjenigen, die selbst autoritär sind. Daher können wir auch keinen Feuerschutz mehr einbauen, sondern sind dazu verdammt, Feuerwehr zu spielen und die Brände einzeln zu löschen.“
EUGH-Entscheidung zur Abstimmung über eine „eindeutige Gefahr einer Verletzung der Grundrechte“
Immerhin! Das EU-Parlament hatte am 12. Sept. 2018 mit Zweidrittelmehrheit der abgegebenen Stimmen eine Entschließung angenommen, der Rat möge dazu Stellung nehmen, ob eine „eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte“ durch Ungarn besteht. Ungarn hatte dagegen vor dem EUGH geklagt mit der Behauptung, es habe keine Zweidrittelmehrheit gegeben. Denn 448 Stimmen bei 197 Neinstimmen und 48 Enthaltungen seien keine Zweidrittelmehrheit. Die Enthaltungen müssten zu den Neinstimmen dazu gezählt werden. Der EUGH hat nun die Klage Ungarns abgewiesen mit der Begründung, die Entscheidung des Parlaments sei rechtmäßig (3.6.2021). Außerdem galt offenbar bislang: es war anderen Staaten verboten, einen Asylantrag eines Ungarn zur Bearbeitung zuzulassen. Hier entschied das Gericht: dieses Verbot entfällt. Insofern gibt es erste rechtliche Konsequenzen auf die von Ungarn angestrebte Klage.