Die Kommission als „Hüterin der Verträge“ (Verträge von Maastricht, Lissabon usw.)
Die Mitgliedsstaaten sind verpflichtet, Richtlinien umzusetzen. Da diese nur Ziele vorgeben, hat jeder Staat bei der Umsetzung durch eigene Rechtsetzung einen Spielraum.
Es gibt Bereiche, in denen einheitliche Bedingungen zur Umsetzung der „Gesetze“ der EU notwendig sind. Zu diesem Zweck sind Durchführungsrechtsakte wie auch delegierte Rechtsakte geschaffen worden.
An delegierte Rechtsakte sind für die Kommission höhere Auflagen gebunden als bei den Durchführungsrechtsakten. Die Kommission kann nicht von sich aus tätig werden, sondern die Befugnis dazu muss ihr vom Parlament oder vom Rat übertragen werden. Ein spezieller Ausschuss ist den Beratungen der Kommission zugeschaltet. In diesem sind nicht nur alle Staaten vertreten, sondern auch die Öffentlichkeit kann Vorschläge und Kommentare einbringen. Außerdem ist der Rechtsakt an konkrete Bedingungen geknüpft und das Ergebnis kann ggfs. vom Auftraggeber widerrufen werden.
Neben Verordnungen und Richtlinien hat die Kommission noch die Möglichkeit, einzelnen Staaten Beschlüsse zu übermitteln. Empfehlungen auszusprechen oder Stellungnahmen zuzusenden.
Weitere Mittel zur Anwendung des EU-Rechts
Die Kommission setzt bei Verzug eines Staates – vor allem bei der Umsetzung der Richtlinien – ein Schreiben an den jeweiligen säumigen Staat und mahnt diesen, endlich zu vollziehen. Meist setzt die Kommission dafür eine Frist. Passiert nichts oder nicht genug, setzt die Kommission ein sog. Vertragsverletzungsverfahren in Gang. Das kann entweder mangelnde Umsetzung rügen oder unsachgemäße bzw. verspätete Anwendung.
Reagiert der nationale Staat erneut nicht, wird die Kommission in der Regel vor dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg klagen. Geschieht danach immer noch nichts, kann die Kommission ein sog. Aufforderungs-Schreiben schicken.
Es ist beschämend, dass Deutschland bei diesen Verfahren auf dem fünft höchsten Platz liegt. Im Jahr 2017 liefen insgesamt 99 Verfahren gegen Deutschland. Dabei geht es oft um lange und gravierende Versäumnisse in der Umweltpolitik. Dänemark liegt mit 42 Verfahren auf dem letzten (dem niedrigsten) Platz. Die EU-Kommission veröffentlicht die Rangliste jährlich.
Probleme bei der Verhängung von Strafen
Ein Problem ist, dass die Mittel der Kommission, Maßnahmen gegen säumige Staaten zu verhängen, gering sind. Polen sowie Ungarn stehen sogar wegen Rechtsstaatsverletzungen vor Gericht. Um mehr Druck auf sie auszuüben, werden jetzt finanzielle Kürzungen in die Diskussion gebracht. Allerdings muss das Haushalts-Budget der EU bisher einstimmig verabschiedet werden. So droht Ungarn bereits damit, dass es die Abstimmung boykottieren will. Der Ausgang ist offen. Auch England mit Boris Johnson an der Spitze hat im Herbst 2020 massiven Vertragsbruch beschlossen. Es bricht den von Johnson selbst 2019 abgeschlossenen Austritts-Vertrag. Die EU muss also bemüht sein, Mechanismen zu finden, die kraftvolle Zeichen gegen eklatante Brüche setzt.
Zur Weiterentwicklung des Problems der Einstimmigkeit, vgl. hier: Aktuelle Nachrichten vom 10.12.2020, sowie frühere dort erwähnte.
s. hier auch den Punkt zur Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft
Ergänzung vom Febr. 2022
Zwei amerikanische Wissenschaftler, Daniel Keleman und Tommaso Pavone haben errechnet, dass die Zahl der eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren zwischen 2004 und 2018 um 67% gesunken ist. Den EuGH erreichten demnach sogar 87% weniger Verfahren.
Vermutlich gibt es dafür mehrere Gründe. Konsequenzen erfolgten für die säumigen Staaten eher selten – wenn doch, dann sehr spät. Nach Beobachtung der beiden Wissenschaftler wurde die Kommission außerdem über die Jahre zahmer und zahmer. Besonders unsere Natur hat darunter stark gelitten. Aber die Kommissar*innen der betreffenden Länder machen sich „zu Hause“ mit der Verhängung eines Vertragsverletzungsverfahrens auch nicht gerade beliebt. Die engagierte Grüne aus dem Parlament, Jutta Paulus meint, es fehle der Kommission auch schlicht das Personal, die Verletzungen zu überprüfen. Der BUND, der die Malaise auch beobachtet hat, entschied sich daraufhin, weniger Verletzungsverfahren zu beantragen. Stattdessen will man vor Ort vehementer für die Einhaltung der Gesetze kämpfen.
Vielleicht ändert sich die Situation aber dann, wenn Grüne in den verschiedenen Staaten selbst an der Regierung beteiligt sind.