Während Belgien im Zentrum der Europäischen Union liegt, begeben wir uns mit Bulgarien eher in die Peripherie Europas auf den Balkan. Es liegt südlich von Rumänien und hat östlich eine Schwarzmeerküste. Während im Südosten der europäische Teil der Türkei liegt, grenzt es im Süden an einen schmalen Streifen von Griechenland. Im Westen liegt das nun Nord-Mazedonien genannte Land. Nachdem der Namensstreit mit Griechenland endlich beigelegt ist, hat Bulgarien nun einen Streit vom Zaun gebrochen, dass die Sprache von Nord-Mazedonien ein bulgarischer Dialekt sei. Dies müsse Nord-Mazedonien anerkennen. Da es die Einstimmigkeit braucht, um ein weiteres Land in die EU aufzunehmen, stellt das Verhalten von Bulgarien eine neue Blockade dar.
Die Wichtigkeit der EU für Bulgarien und für den gesamten Balkan
Dazu sagt Michael Roth, der Vorsitzende des auswärtigen Ausschusses des dt. Bundestages: „Der westliche Balkan ist nicht unser Hinterhof, sondern der Innenhof Europas. Frieden, regionale Versöhnung und Demokratie dort sind für ganz Europa von zentraler strategischer Bedeutung. Insbesondere für die unmittelbare Nachbarschaft. Auch die Sicherheit und Stabilität Bulgariens wären gefährdet, wenn wir nicht zu mehr Sicherheit und Stabilität in der Nachbarschaft kommen.“(Die Welt, 26.11.2020) Das ist ein sehr wichtiges Statement, das nicht nur die Beiden Staaten, sondern den gesamten Balkan betrifft. Zu dem gehört auch noch das im Norden von Nord-Mazedonien liegende Serbien, mit dem Bulgarien ebenfalls eine längere Grenze verbindet.
1. Geschichte
Auch die bulgarische Geschichte ist „typisch“ europäisch, weil das Land unter sehr verschiedenen Herrschaftssystem zu leiden hatte und erst 1989 seine hoffentlich dauerhafte Unabhängigkeit erlangte. Aber Bulgarien war nicht immer Opfer, sondern zeitweise auch Täter.
Zunächst war Bulgarien Teil des Königreichs Mazedonien, dann war das Gebiet des heutigen Bulgariens Teil des römischen Imperiums. Im 6. und 7. Jahrhundert nach Christi Geburt wurde auch dieser Teil des Balkans von slawischen Stämmen „überrannt“. Erstmalig zum Ende des 5. Jahrhunderts findet sich die Erwähnung von Bulgaren im Nachgang zu Überfällen durch den Hunnen König Attila. Die slawischen Khans herrschten, doch die militärische Aristokratie blieb weitgehend bulgarisch. Der Nordosten Bulgariens wurde mehrfach von Russen und Magyaren überfallen und ausgeraubt.
Das Christentum
Im Jahr 865 ließ sich der Herrscher Boris I. taufen. Damit mussten alle Untertanen auch zum Christentum übertreten. In der Kontroverse zwischen Rom und Byzanz entschied sich Boris I für die oströmische Kirche. 893 – 927 herrschte König Simeon und dehnte seine Macht auch auf die Serben aus. Er nahm den Titel „Kaiser und Autokrat aller Bulgaren und Griechen“ an und versuchte vergeblich, Konstantinopel zu erobern. Als größter bulgarischer Herrscher wird Ivan Asen II (1218-1258) bezeichnet, der sein Reich auf Albanien, Epirus, Mazedonien und Thrakien – heute Griechenland – ausdehnte. Bulgarien erlebte eine bis dahin ungeahnte Blüte in den verschiedenen kulturellen und wirtschaftlichen Bereichen.
Osmanische Herrschaft
Ab 1340 geriet Bulgarien unter türkische Herrschaft. Damit begann in den 5 Jahrhunderten bis 1878 die „dunkle Ära“ für das Land. Sie ist gekennzeichnet durch Verwüstungen mit Feuer und Schwert insbesondere gegen Kirchen und Klöster, sowie hohe Abgaben auf verbliebene christliche Bewohner in Form einer Kopfsteuer und landwirtschaftliche Naturalleistungen. Am Bittersten war vermutlich die „Requirierung“ von 10-12 jährigen Jungen, die nach Konstantinopel verbracht wurden, um bei den Janitscharen, der Elitetruppe der osmanischen Armee, zwangsweise zu dienen. Nach der gescheiterten Belagerung Wiens durch die Türken 1683 kam es auf dem Balkan zu anarchischen Verhältnissen. Die türkischen Armeen auf ihren Durchmärschen durch Bulgarien im Zusammenhang ihrer Kriege mit Österreich plünderten in den ländlichen Gebieten und begingen Massaker.
Nationale Erhebung
Gleichzeitig trug die griechisch-orthodoxe Kirche mit ihrer geistlichen Dominanz zur nationalen Erhebung der Bulgaren bei. 1876 kam es zu einem Aufstand, der aber von den Türken blutig niedergeschlagen wurde. 15 000 Bulgaren wurden abgeschlachtet. Serbien und Russland, erklärten daraufhin dem osmanischen Reich den Krieg und konnten im Vertrag von St. Stefano den bulgarischen Forderungen nach Eigenstaatlichkeit entsprechen – 3/5 des Gebietes der Balkan Halbinsel mit etwa 4 Millionen Einwohnern.
Doch auf dem Berliner Kongress vom 13. Juli 1878 wurde Bulgarien wieder zusammengestutzt. Bis zur Verabschiedung einer demokratischen Verfassung im Jahre 1879 blieb Bulgarien von russischen Truppen besetzt. Die Nationalversammlung wählte den 22jährigen Prinzen Alexander von Battenberg aus dem Großherzogtum Hessen und Neffen des russischen Zaren Alexander II zum König. Unter russischem Einfluss wurde zeitweise die Verfassung außer Kraft gesetzt. Auch die Nachfolger des Prinzen waren hin und her gerissen zwischen den Anforderungen aus Russland und Serbien und den Versuchen, einen Modus Vivendi zum Osmanischen Reich zu finden.
Erneute Befreiungsversuche
1912 kam es zum 1. Balkan Krieg, einer Allianz von Serbien, Russland, Griechenland und Bulgarien gegen das Osmanische Reich. 1913 folgte der 2. Balkankrieg. Danach teilten Griechen und Serben Mazedonien, bis dahin bulgarisch, untereinander auf. Im ersten Weltkrieg schlug Bulgarien sich auf die Seite Österreich-Ungarns und Deutschlands, u.a. in der Hoffnung, so wieder die Herrschaft über Mazedonien zu erlangen. Am 29.9.1918 musste Bulgarien die Deklaration der bedingungslosen Kapitulation gegenüber den Siegermächten England, Frankreich und Italien unterzeichnen. Im Vertrag von Neuilly wurden dem Land umfangreiche Reparationszahlungen – zunächst 90 Millionen britische Pfund, später reduziert auf 22 Millionen Pfund, rückzahlbar in 60 Jahren – auferlegt. Und es musste Teile seines Territoriums an Rumänien und an Serbien abtreten.
Wieder nicht auf der Siegerseite
Zu Beginn der 20er Jahren wurden Landreformen durchgeführt: Ländereiern der Krone und der Kirche und von Großgrundbesitzern wurden enteignet und an mittellose Bauern verteilt. Stichworte der weiteren Entwicklung Bulgariens sind: Staatsstreich 1923, Unruhen, kommunistische Agitationen, Spannungen mit Mazedonien und Griechenland, „Hilfsangebote“ aus dem kommunistischen Russland. Zu Beginn der 30er Jahre wirkte sich die Weltwirtschaftskrise auch in Bulgarien aus. 1934 übernahm ein autoritäres Regime die Macht, verbot alle politischen Parteien und ihre Zeitungen. Zu Beginn der 40er Jahre paktierte Bulgarien mit Hitler-Deutschland und räumte deutschen Truppen eine Stationierung im eigenen Land ein als Basis für Operationen gegen Griechenland und Jugoslawien. Dafür durften dann bulgarische Truppen Thrakien in Griechenland, Teile Serbiens und das Jugoslawische Mazedonien angreifen. 1944 versuchte Bulgarien sich von Deutschland abzusetzen und sich für neutral zu erklären.
Kommunismus
Trotzdem marschierten russische Truppen ein. Die bulgarischen Truppen kamen unter russischen Befehl und kämpften gegen Deutschland. Im Dezember 1944 begannen unter dem neuen Regime Kriegsverbrecherprozesse gegen die früheren Machthaber: 3 Regenten, 22 Minister und 68 Parlamentsabgeordnete als Teil von 2.680 Todesurteilen wurden im Februar 1945 vollstreckt. Mehr und mehr geriet Bulgarien unter kommunistischen Einfluss sowjetischer Prägung, was sich u.a. an Zwangs-Kollektivierungen in der Landwirtschaft zeigte. Nach Stalins Tod 1953 ließ dieser Einfluss nach. 1954 wurden diplomatische Beziehungen zu Griechenland aufgenommen. Aber Bulgarien nahm mit vier anderen Ländern des Warschauer Pakts an der Niederwerfung des Aufstandes in der Tschechoslowakei 1968 teil. (Alle Angaben: New Encyclopaedia Britannica. Band 15).
Zwei Mal – 1963 und 1973 – wurde vergeblich die Auflösung der Volksrepublik Bulgarien als „souveräner“ Staat und die Eingliederung als 16. Sowjetrepublik in die Sowjetunion beraten.
Das kommunistische Regime erwirkte die Vertreibung von bis zu 370 000 islamischen Personen in Richtung Türkei.
Erstmals frei
Todor Schiwkow trat am 10.11.1989 auf Grund innerparteilichen Drucks zurück. Er war seit 1962 Ministerpräsident und Generalsekretär der Partei.
Darauf kam es 1990 zu freien Wahlen, die die Oppositionsbewegung SDS – Union der demokratischen Kräfte – für sich entschied. Friedliche Demonstrationen und diese Wahlen beendeten so die kommunistische Herrschaft. 2001 gewann die „Nationale Bewegung Simeon II“ die Wahlen mit 42,7%. Simeon II von Sachsen-Coburg und Gotha war nach 55 Jahren im spanischen Exil nach Bulgarien zurückgekehrt. Da die Verfassung streng republikanisch war, nannte er sich Simeon Sakskoburggolski.
Exkurs zur bulgarischen Judenpolitik und seines Sonderweges
Zar Boris III regierte seit 1935 absolutistisch. 1941 erließ er ein erstes antisemitisches Gesetz. Juden mussten aus öffentlichen Ämtern ausscheiden, eine Sondersteuer entrichten und wurden teilenteignet. 1942 kam aus Berlin Druck, Juden zu deportieren. 13.343 Juden wurden aus den von Bulgarien besetzten Territorien nach Treblinka deportiert. 1943 fuhr Boris III nach Berlin. Er widerstand dort dem massiven Verlangen, weitere Juden zu deportieren. Er benötige mindestens 25 000 arbeitsfähige Juden für wichtige öffentliche Arbeiten. Auch aus der bulgarischen Zivilgesellschaft gab es Widerstand gegen die Vertreibung bulgarischer Juden. Die bulgarisch-orthodoxe Kirche intervenierte ebenfalls. So konnten 50 000 Juden aus dem bulgarischen Kernland gerettet werden. 40 000 von ihnen wanderten ab 1948 nach Israel aus.
Die Frage, wie dieser „Sonderweg“ eines mit Hitler-Deutschland verbündeten Landes möglich war bzw. wie es dazu kam, dass die Juden aus von Bulgarien besetzten Ländern ausgeliefert wurden, aber die aus dem Kernland nicht, ist nicht abschließend geklärt (Wikipedia).
2. Grunddaten
Bulgarien hat heute eine kurze Grenze mit dem „europäischen Teil“ der Türken. Es grenzt an Griechenland im Süden und im Westen an Nord-Mazedonien und Serbien und im Norden an Rumänien – die Donau bildet über weite Strecken die Grenze. Nach Osten liegt es an der Küste des Schwarzen Meeres. Die Hauptstadt ist Sofia, Bulgarien hat ca. 7 Millionen Einwohner und 81 Einwohner auf den Quadratkilometer. Die Bevölkerungszahl ist rückläufig wegen der Abwanderung junger Arbeitskräfte – minus 0,7% in 2018. Nach der letzten Volkszählung sind 84,8% Bulgaren, 8,8% Türken, 4,9% Roma und 2% Russen. Bulgarien ist seit 2004 Mitglied der Nato und seit 1.1.2007 Mitglied der EU.
Wirtschaftliche Situation
Wichtigste Wirtschaftszweige waren 2018 die Industrie mit 23,1%; Groß- und Einzelhandel, Verkehr, Hotels und Gaststätten 22,6% und öffentliche Verwaltung, Verteidigung, Bildung, Gesundheits- und Sozialwesen 14,4%. Von den Exporten gehen 69% in die EU Länder, 64% der Importe kommen aus der EU. Die EU zahlte im gleichen Jahr 2,169 Milliarden Euro an Bulgarien, was 3,91% des Sozialprodukts entspricht. Die Gelder wurden eingesetzt für den Straßenbau, für die Forschungsförderung und für den Klimaschutz. Der Gesamtbeitrag Bulgariens zum EU Haushalt betrug 0,487 Milliarden Euro, was 0,88% des Sozialprodukts ausmacht. Bulgarien als eins der ärmsten Länder in der EU ist also ein Netto-Empfänger Land (Angaben der EU).
Vor und nach dem EU-Beitritt
Bulgarien hatte von 1990 – 2000 bis auf das Jahr 1998 (+4,29%) ständig ein Minuswachstum des realen BIP zu verzeichnen. Von 2004 bis 2008 lag das Wachstum immer über +6%, denn: schon vor dem EU Beitritt 2007 gab es von der EU eine „Anschub Finanzierung“. Seit Beginn der weltweiten Finanzkrise 2009 (-3,35%) bis 2014 gab es nur geringe Wachstumsraten. Ab 2015 liegt die Wachstumsrate bis 2019 ständig über 3%, also höher als im EU Durchschnitt (Statista). Bulgarien hat also wirtschaftlich besonders durch den EU Beitritt profitiert. Die Arbeitslosenquote lag im Februar 2020 bei 4,1%. Trotz allem ist Bulgarien immer noch ein sehr armes Land. Das BIP pro Kopf liegt bei 8.680,- Euro jährlich – weit unter dem EU Durchschnitt von 31 110,-Euro.
Monetäre Situation
Die Staatsverschuldung lag 2018 bei 22,3% des BIP und im 4. Quartal 2019 bei sensationell niedrigen 20,4% . Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die noch verbliebenen staatlichen Unternehmen in Bulgarien hoch verschuldet sind. Im EU-Durchschnitt der 27 ohne Großbritannien liegt die Staatsverschuldung demnach bei 77,8%.
Im Juli 2020 wurde Bulgarien mit seiner Währung des Lev die Möglichkeit eröffnet, in zwei Jahren dem Euro beitreten zu können. Bulgarien befindet sich damit mit Kroatien im „Wartezimmer“ des Euro. Das bedeutet, in dieser Zeit muss die Währung mehr oder weniger stabil bleiben. Die EU sieht in dieser Entwicklung eine Anerkennung der Reformbemühungen Bulgariens.
Der HDI lag 2018 bei erstaunlich hohen 0,816. Bulgarien lag so auf Rang 52 von 189 Ländern, und damit im vorderen Mittelfeld.
Energiefragen
Unter dem Motto „Entwicklung, Frieden und Wohlstand“ startete am 23.5.2019 der Bau eines Verbindungsstücks einer Gasleitung zwischen Bulgarien und Griechenland. Damit kommt es zu einem Anschluss an die Trans Adriatic Pipeline (TAP). Durch diese soll Gas aus Aserbaidschan nach Südeuropa gelangen und so den europäischen Gasmarkt diversifizieren. Die EU Kommission unterstützt das Projekt direkt mit 45 Millionen Euro. 110 Millionen Euro steuert die Europäische Investitionsbank als Darlehn bei (Info der EU Kommission). Der Balkan ist allerdings auch an das russische Gasleitungsnetz durch die Ukraine angeschlossen. Es ist dringend geboten, die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu reduzieren. Seit dem 1.1.2021 fließt Gas durch die TAP bis nach Süditalien.
Soziale Situation
Der Corruption Perception Index wird jährlich von der NGO „Transparency International“ erhoben. 2003 wies er für Bulgarien die Zahl 61 aus, sechzehn Jahre später 2019 noch 57, also nur eine leichte Verbesserung. 100 bedeutet ganz korrupt, null ist praktisch ohne Korruption. Zum Vergleich der Durchschnitt der EU: liegt er 2003 insgesamt bei 42, aber 2019 auch noch bei 40. Bulgarien hat einen weiten Weg vor sich, um wenigstens den EU Durchschnitt zu erreichen.
Mitte 2020 gibt es andauernde Demonstrationen nicht nur in der Hauptstadt Sofia gegen den Regierungschef Bojko Borissow, dem u.a. Korruption und Geldwäsche vorgeworfen wird und dessen Rücktritt die Demonstranten fordern. Das Motto der Proteste: „Verteidigt die Demokratie“. Den Demonstranten geht es um die Wiederherstellung des Rechtsstaates und auch darum sicherzustellen, dass die Gelder aus dem Wiederaufbaufonds der EU in Bulgarien nicht in dunklen Kanälen versickern. Auch der EU Bericht zur Rechtsstaatlichkeit in den EU Mitgliedsländern von 2020 prangert die verbreitete Korruption in Bulgarien an.
Leben und Kultur
Als Nationalgericht wird „Bob Tchorba“, eine leckere Bohnensuppe, angepriesen.
Bulgarien besitzt 9 Weltkultur-Erbe-Stätten, darunter die Felsenkirche Iwanowa und das Felsenrelief des Reiters von Madera. Das antike römische Theater von Plovdiv, vollständig ausgegraben, fasste 7000 Zuschauer und war 2020 zur Kulturhauptstadt erkoren. Das orthodoxe Kloster in Rila (s. Bild) wurde im 10. Jahrhundert gegründet.