Die Überwindung von Grenzen

Der bisherige Weg der europäischen Einigung ist ein mühsamer Prozess, der auch durch Rückschläge gekennzeichnet ist. Bis heute ist die Erweiterung auf inzwischen 28 Länder (27 – zum Brexit später ) ausgedehnt worden. Gleichzeitig ist aber auch die schrittweise Vertiefung der friedlichen Zusammenarbeit vorangetrieben worden. So wie Le Chanoine Kir sich – fast unvorstellbar – aus einem Leichenberg ermordeter Freunde befreien konnte, so ist Europa in der Gestalt der EU aus den Trümmern und den Massen von Toten hervorgegangen. Die EU ist daher einerseits eine große Erfolgsgeschichte zur Überwindung von Jahrhunderte alten militärischen Feindschaften. Andererseits überwindet die EU sowohl geographische wie auch wirtschaftliche  und auch  mentale Grenzen. Sie tut das auf einem kulturell und sprachlich vielfältigen Kontinent mit heute mehr als 500  (450) Millionen Bürgern. Weitere Aspiranten auf Mitgliedschaft stehen z.T. schon vor der Tür. Das zeigt die nach wie vor enorme Anziehungskraft dieses in geschichtlicher Perspektive noch jungen Projektes.

Die Montanunion: Krieg zwischen Erzfeinden unmöglich machen

Wegweisend für die  Einleitung der friedlichen Zusammenarbeit waren die Franzosen Robert Schuman und Jean Monet, wie auch der Italiener Alcide de Gasperie und der Belgier Paul Henri Spaak sowie der Deutsche Konrad Adenauer. Schon wenige Jahre nach Kriegsende begann die Einigung mit der Gründung der Montanunion, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl. Erste Gespräche fanden bereits 1949 statt. Sie trat 1952 in Kraft und hatte anfangs sechs Mitglieder.  Das waren  Frankreich und Italien, „natürlich“, aber alles andere als selbstverständlich die Bundesrepublik Deutschland sowie die drei kleinen Benelux-Länder. Dieser Beginn war nichts weniger als revolutionär. Schließlich waren doch Kohle und Stahl die Branchen, die zentral für die jeweilige nationale Rüstungsproduktion waren. In dem Moment, wo sie in den Mitgliedsländern unter europäischer Verwaltung standen, war der erste entscheidende Schritt zur Sicherung eines langfristigen Friedens getan.

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG)

1957/58 wurde diese Gemeinschaft um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erweitert, außerdem um EURATOM, bei der es um die Atomenergie geht.  Ziele waren nun auch der Abbau von Zöllen und die Schaffung eines gemeinsamen Marktes. 1967 wurden die Organe dieser Gemeinschaften zusammengelegt. Besonders  Deutschland war durch die frühere Kleinstaaterei mit ihren vielen Zollbarrieren zersplittert. Das behinderte die wirtschaftlichen Entwicklung. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft  dagegen trug  schnell  zur  Schaffung von Wohlstand für breite Gesellschaftsschichten bei.

Diese Entwicklung war am 8. Mai 1945, dem Ende des 2. Weltkrieges noch gänzlich unvorstellbar gewesen.

10 Jahre später, 1967 wurden die Exekutivorgane der EWG verschmolzen. Seitdem nannte sich das Gebilde EG, Europäische Gemeinschaft.

 

Direktwahl: Das Europa-Parlament

Am 1.1.1973 traten Großbritannien sowie Dänemark und Irland der EG bei, die damit aus 9 Mitgliedern bestand.

1979 im Juni fand  in diesen 9 Mitgliedsländern die erste allgemeine und unmittelbare Direktwahl zum Europäischen Parlament statt. Das war ein erster Schritt, um der Europäischen Staatengemeinschaft eine direkte demokratische Legitimation zu verschaffen. Zwar haben die Stimmen der Wähler*innen bei der Wahl zum Europäischen Parlament nicht das gleiche Gewicht, aber darum kann es auch nicht gehen. Denn das würde  kleinere Mitgliedsländer hoffnungslos marginalisieren. Die Problematik ist darum folgendermaßen geregelt: Ein kleines Land entsendet nicht weniger als 6 Abgeordnete ins Europäische Parlament  und ein großes nicht mehr als 96. Dies bedeutet: ein maltesischer Abgeordneter vertritt knapp 70 000 Wähler, ein deutscher mehr als zehnmal so viele, nämlich 854 000.

Erweiterung

Am 1.1.1981 kam Griechenland als 10. EG-Mitglied dazu. Zum 1.1.1986 wurden Spanien und Portugal 11. und 12. Mitglied. Neben Griechenland waren das zwei weitere Länder, die sich in den Jahren davor von einem  diktatorischen Regime zur Demokratie entwickelt hatten.

Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde die ehemalige kommunistische DDR am 1.7.1990 Westdeutschland eingegliedert. Damit war sie Teil der  gesamtdeutschen Wirtschafts- und Währungsunion.  So wurde der erste Schritt zur Integration in die Europäische Gemeinschaft vollzogen.

Maastricht: ein Meilenstein für die EU

Dieser Vertrag wurde ausgehandelt, als die Sowjetunion mehr und mehr auseinander brach und sich schließlich Ende 1991 aufgelöst hatte.

In dem Vertrag von Maastricht wurde die Ausweitung der EG auf die Europäische Union beschlossen. Denn man erkannte wohl die Möglichkeit der Ausweitung   und die Notwendigkeit, für die kommenden Herausforderungen Kriterien für die Aufnahme neuer Staaten zu schaffen. Als neue Standbeine für eine Europäische Union einigten sich die Beteiligten auf die Erweiterung der Politikfelder  auf eine Außen- und Sicherheitspolitik, sowie auf eine Innen- und Rechtspolitik. Danach hatte die EU in Zukunft also zusammen mit der Wirtschaftspolitik drei Säulen.

 Die Konvergenz-Kriterien

Der Beitritt zur Europäischen Union ist folglich an die Erfüllung von sog. Konvergenzkriterien gebunden, also an Bedingungen. Sie sind sowohl finanzieller als auch verwaltungstechnischer Natur.  Es handelt sich um wirtschaftspolitische Kriterien, nach denen eine gewisse Übereinstimmung zwischen den Mitgliedstaaten herrschen soll.  In dem beitrittswilligen Land soll es eine funktionsfähige Marktwirtschaft geben und damit die Fähigkeit, dem wirtschaftlichen Wettbewerbsdruck innerhalb der EU standhalten zu können. Das soll die Stabilität gewährleisten.  Idealerweise sollen die Bedingungen vertragsrechtlich durchgehend eingehalten werden.

Wirtschaftlicher Wettbewerb im gemeinsamen Binnenmarkt

Der  Vertrag von Maastricht vom Dezember 1991, der mit Jahresbeginn 1993 in Kraft trat, organisiert einen einheitlichen Binnenmarkt.

Dieser ist gekennzeichnet durch einen vierfach freien Verkehr von   Waren,    Dienstleistungen,    Kapital     und    Personen. 

Dazu ist eine Fülle von Regulierungen und Standardisierungen erforderlich, die sowohl für Anbieter als auch für Konsumenten Vergleichbarkeit herstellen.  Auf dieser Basis wird der innergemeinschaftliche Wettbewerb intensiviert. Tendenziell führt dieser zur Verbilligung der Angebote.

Verbraucherschutz

Außerdem geht es um Verbraucherschutz sowie um die Sicherheit der EU Bürger*innen.

So gibt es beispielsweise 193 verschiedene Fluggesellschaften aus 18 Staaten, die aus Sicherheitsgründen n i c h t  in der EU landen und starten dürfen. Die Normierung der Euro-Palette erleichtert die Logistik in ganz Europa. Was weitere Standardisierung bewirken könnte, sieht man an der Inkompatibilität der e-book-reader. Die Kritik an der „Regelungswut“ Brüssels geht daher ins Leere, denn nur  eine grenzüberschreitende Vereinheitlichung von Regelungen  gewährleistet wirtschaftlichen Wettbewerb, sowie Transparenz, wirkliche Produktsicherheit  und auch Verbraucherschutz.

Kopenhagen, Verpflichtung auf die gemeinsamen Werte ab 1999

Darüber hinaus hat sich die EU aber auch der Einhaltung der institutionellen Stabilität verschrieben. Dazu gehören eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, so wie die Wahrung der Menschenrechte, außerdem die Achtung und der Schutz der Minderheiten. Selbstverständlich gehört dazu auch die Fähigkeit, sich die aus einer EU-Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen und Ziele zu eigen zu machen.        Und das bedeutet, die Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtssystems!

Schengen, ein Raum ohne Binnengrenzen

Die Attraktivität der Europäischen Union ist ungebrochen.  Zum 1.1.1995 traten Österreich sowie Finnland und Schweden der EU bei und damit  bestand sie aus 15 Mitgliedern. 1995 trat das Schengener Abkommen in Kraft. Darin verpflichten sich Deutschland, Frankreich und die drei Benelux-Staaten, sowie Spanien und Portugal, die Personenkontrollen an den Binnengrenzen abzuschaffen.

2004, also nach der Verpflichtung auf gemeinsame Werte (!) traten zehn weitere, vornehmlich osteuropäische Staaten der EU bei.

Der Schengenraum konnte Ende 2007  um neun von diesen neuen Mitgliedern erweitert werden Das sind die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, sowie Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei, außerdem Ungarn und Slowenien und auch Malta.

Lissabon, eine Verfassung für die EU mit einer Grundrechtscharta

Durch den Vertrag von Lissabon von 2009 wurde die Grundrechtscharta der EU von 2000 rechtsverbindlich. Die Gesamtheit der bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte sind seit diesem Zeitpunkt einklagbare Grundrechte.  Jede/r Bürger*in der EU kann seitdem vor dem EUGH (Europäischen Verfassungsgerichtshof) klagen. Die Grundrechtscharta hat folgende  Kapitel: Würde des Menschen, Freiheiten, Gleichheit, Solidarität, Bürger- und justizielle Rechte. [Da zwei Staaten in einer Volksabstimmung die ausgearbeitete Verfassung ablehnten (allerdings aus rein innenpolitischen Gründen), musste diese umgearbeitet werden und wurde „nur“ als Vertrag von Lissabon verabschiedet.]

Die Verträge von Maastricht und von Lissabon geben der EU einen Verfassungsrahmen, der sowohl die wirtschaftliche Ordnung, die politische Ordnung  wie auch die Grundrechte der Bürger umfasst. Neben den vielen geographischen Erweiterungen sind das zwei sehr bedeutende Schritte der Vertiefung der EU.

Der Euro, eine einheitliche Währung und die Europäische Zentralbank

Im Dezember 1995 beschloss der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs die Einführung einer einheitlichen Währung.  2000 war es soweit. Der „Euro“ wurde eingeführt.  Elf der 15 EU-Länder erfüllten die Konvergenzkriterien, als da sind Preisstabilität, Haushaltsdisziplin und klare Kriterien für die Staatsverschuldung.  2001 treten Griechenland, 2007 Slowenien, 2008 Malta und Zypern, 2009 die Slowakei, 2011 Estland und 2014 Lettland dem Euro bei und am 1.1.2015 Litauen. Seitdem gehören 19 Länder der Euro-Zone an.

Damit ist die EU nicht mehr nur ein Friedens- und ein Menschenrechts-Projekt sowie ein gemeinsamer Markt. Sie ist nun auch ein einheitlicher Währungsraum mit der Europäischen Zentralbank als Hüterin der Preisstabilität. Sie wird gleichzeitig für alle Mitglieder des Euro-Raumes geschaffen.

Zwei Geschwindigkeiten

Die Einführung des Euro ist einerseits ein weiteres Beispiel der Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit. Die anderen Mitgliedsländer haben sich verpflichtet, den Euro zu gegebener Zeit ebenfalls einzuführen (mit Ausnahme von Großbritannien und Dänemark).  Insofern ist die Einführung des Euro auch ein  Beispiel der zwei Geschwindigkeiten des Integrationsprozesses. Bulgarien hat im Januar 2018 angekündigt, den Euro übernehmen zu wollen. Bulgarien und Rumänien waren am 1.1.2007 der EU beigetreten.

Politische Erfolgsgeschichte, die Attraktivität der EU

Zu den zehn Staaten, die 2004 der EU beitraten, gehörte auch Zypern, dort allerdings nur der griechische Teil der Insel. Die EU bestand damit aus 25 Mitgliedern. Diese Integration der zehn in die Europäische Gemeinschaft ist von besonderer Bedeutung, weil sie die Überwindung des Eisernen Vorhangs und damit die Überwindung der europäischen Teilung nach dem zweiten Weltkrieg markiert. Nach  Bulgarien und Rumänien trat am 1. Juli 2013 Kroatien als 28. Mitglied der EU bei. Damit sind zwei Länder des früheren Jugoslawien, Slowenien und Kroatien, in das europäische Friedensprojekt integriert worden. Die Hoffnung ist langfristig, dies auch im Sinne der schrittweisen Befriedung des Balkans zu tun.

Dieser Prozess der Vertiefung und Erweiterung der EU ist in historischer Perspektive beispiellos und eine Erfolgsgeschichte sondergleichen. Er ist von allen Staaten freiwillig erfolgt und sucht auf der ganzen Welt seinesgleichen. Für alle Europäer muss das heißen: Hinter diesen Stand der europäischen Integration darf es kein Zurück geben!