Warum ist in einer Marktwirtschaft Verbraucherpolitik notwendig?
Die Lehre von der Volkswirtschaft beschäftigt sich mit theoretischen Modellen. Die Marktwirtschaft ist darin ein Modell, das vom Liberalismus geprägt ist. Dort wird überlegt, wie ein Markt funktioniert. Das Modell des Liberalismus zu der Funktionsweise vom Markt geht davon aus, dass sich Anbieter von Waren und die Nachfrager, also die Käufer jeweils souverän, also vom anderen unabhängig gegenüber stehen. Gefällt dem Kunden ein Produkt des Anbieters nicht oder ist es ihm zu teuer, wendet er sich alternativen Angeboten zu. Das Modell sieht die Anbieter unter Wettbewerbsbedingungen als Diener ihrer Kunden. Der Verbraucher sei der eigentliche Souverän der Marktwirtschaft. Gemäß diesen Modellannahmen bedarf der Käufer keinerlei Schutzes durch den Staat außerhalb der Regelungen im Kaufrecht.
Die überholte „Neoliberale“ Argumentation
Hardcore Neoliberale – also Theoretiker, die es auf die Spitze treiben, vertreten sogar die Meinung, dass Anbieter sich keine Fehler leisten könnten, weil bei Unfällen dann der Anbieter gewechselt werde und der fehlerhafte Anbieter vom Markt verschwinde. Dagegen ist einzuwenden, dass die Toten nach einem Flugzeugabsturz wegen mangelhafter Wartung den Anbieter nicht mehr wechseln können. Dafür nur eins von vielen Beispielen: „Das Flugzeug verlor während des Starts vom Flughafen Chicago O’Hare infolge eines Wartungsfehlers ein Triebwerk, wodurch Hydraulikleitungen für die Steuerung beschädigt wurden. Die Maschine stürzte 30 Sekunden später unkontrollierbar ab, wobei 271 Insassen und zwei Menschen am Boden ums Leben kamen (siehe American-Airlines-Flug 191, Wikipedia)“. Eine derartige Argumentation ist maximal zynisch und nur als ideologische Rechtfertigung unbegrenzter unternehmerischer Handlungsfreiheit zu verstehen, wurde aber schon von jungen, noch im Studium befindlichen Menschen vehement so vertreten. Das als Beispiel dafür, dass ideologische Standpunkte keinesfalls wirkungslos sind.
In der Realität
a) der Anbieter
Tatsächlich gibt es in der Realität ohnehin zwischen den Marktteilnehmern nicht die Begegnung auf Augenhöhe, denn der Anbieter hat immer einen deutlichen Informationsvorsprung. Er konzentriert sich auf eine überschaubare Anzahl von Produkten. Natürlich kennt er nicht nur deren Schwachstellen, sondern ihre Haltbarkeit, sowie die verwandten Materialien. Er weiß auch um die Umweltunverträglichkeit und die Entsorgungskosten seiner Produkte Bescheid. In der Werbung aber stellt er das Produkt meist „einseitig“ zu seinen Gunsten dar. Oft gibt es sogar irreführende Werbung. Werbung ist insgesamt darauf abgestellt, das Haben der Produkte als Teil des Lebensglücks darzustellen. Geworben wird gerne mit Reichen und Schönen. So wie ja auch dieses Produkt „offensichtlich“ dieselben glücklich macht, wird es auch den Käufer*innen gehen. Das ist die verborgene Botschaft der Werbung. Die Anbieter versuchen also mit den verschiedensten Strategien die potentiellen Käufer zu verführen, ihre Produkte zu kaufen.
b) der Verbraucher
Der Käufer ist normalerweise Laie. Er kann sich in Bezug auf seine unterschiedlichen Bedarfe von den Nahrungsmitteln über Möbel und Haushaltsgeräte, Strom-, Öl-, oder Gastarife und Bankdienstleistungen bis hin zum Angebot von PKWs und Fahrrädern und unterschiedliche Reisemöglichkeiten kein umfassendes Bild machen. Auch kann er nur schwer beurteilen, ob der angegebene Preis angemessen ist. Hinzu kommt, dass die Anbieter normalerweise nicht wirklich in Konkurrenz zueinander stehen. Wie soll der Verbraucher verdeckte Preisabsprachen oder Absprachen zur Manipulation von Produkten wie in der Automobilindustrie zur „Umgehung“ der Abgasnormen bei Dieselfahrzeugen durchschauen? Bis solche Praktiken aufgedeckt werden und bis die Wettbewerbspolitik bzw. die Gerichte reagieren, vergeht oft viel, viel Zeit.
Verbraucherpolitik ist Ordnungspolitik
Verbraucherpolitik ist also ordnungspolitisch notwendig, um die relativ schwache Position der Käufer*innen am Markt ein wenig auszugleichen. Dies kann dadurch geschehen, dass die Hersteller Vorgaben zum Produktionsprozess einzuhalten haben, also z.B. zu den verwandte Materialien, den Ausschluss gesundheitsgefährdender Stoffe, zur Wartung der Flugzeuge etc. Außerdem können Anbieter gesetzlich verpflichtet werden, bestimmte Produktinformationen zu geben. Werbung für gesundheitsgefährdende Produkte kann verpflichtend eingeschränkt werden. Oder es kann festgelegt werben, dass das Produkt mit drastischen Warnhinweisen versehen werden muss, wie z.B. bei der Zigarettenwerbung: Rauchen ist tödlich! Den Verbraucher*innen können durch unabhängige Verbraucherzentralen Testberichte zur Verfügung gestellt werden oder auch umfangreichere Informationen.
Wie gezeigt, ist sie Teil der staatlichen Gesundheitsvorsorge. Sie ist damit Teil der notwendigen Regulierung der Märkte weit über die Wettbewerbspolitik hinaus.
Verbraucherpolitik ist sehr vielfältig
Sie ist zusätzlich Teil der Kommunikationspolitik zur Ertüchtigung der Verbraucher auch unter ökologischen und Nachhaltigkeits-Aspekten. Verbraucherpolitik ist damit Erziehungspolitik mit dem Ziel, den mündigen Verbraucher zu bilden, so wie es in der Demokratie um die Bildung des mündigen Bürgers geht.
Verbraucherpolitik ist auch eine Querschnittsaufgabe
Konstantin Simitis nennt in seiner Publikation: „Verbraucherschutz – Schlagwort oder Rechtsprinzip?“ aus dem Jahre 1975 vierzehn Bereiche des Verbraucherschutzes. das Kartellrecht, das Recht des unlauteren Wettbewerbs, den Warentest, die allgemeinen Geschäftsbedingungen, die Produzentenhaftung, das Abzahlungsrecht, die Preisauszeichnung, das Mess – und Eichwesen, die Textilkennzeichnung, die Handelsklassen, das Lebensmittelrecht, das Arzneimittelrecht, die Versicherungsaufsicht, und das Marktordnungsrecht. Heute kommen das Telekommunikationsrecht – u.a. Roaming Gebühren – und das Energierecht – u.a. die Bestimmungen in Bezug auf den Wechsel des Anbieters – hinzu. Hieraus wird deutlich, dass die Verbraucherpolitik ebenfalls eine Querschnittsaufgabe ist, die es in vielen anderen Politikbereichen zu berücksichtigen gilt.
Warum ist Verbraucherpolitik auf der Ebene der EU notwendig?
Die EU organisiert einen Ländergrenzen überwindenden gemeinsamen Markt, von Lappland bis Zypern, von Kattowitz bis Dublin, von Helsinki bis Porto. Das Problem des Informationsungleichgewichts zwischen Anbieter und Käufer stellt sich verstärkt in einem so großen Markt, noch dazu mit den verschiedensten Sprachen. Außerdem gibt es Importe aus dem Ausland in die EU, die ebenfalls des Schutzes der Verbraucher bedürfen. Bei billigem Kinderspielzeug aus dem kommunistischen China stellt sich die Frage, wie giftig die verwandten Farben sind? Sind die Augen-Knöpfe der Kuscheltiere so lose, dass die Kinder sie abreißen und verschlucken können?
Schutz der Verbraucher
Weiter denke man an Elektrogeräte: Sind die Angaben zum Stromverbrauch verlässlich? Wie können sie entsorgt werden? Sowohl bei im Inland wie im Ausland hergestellten PKW oder LKW ist die Frage zu stellen, ob die Sicherheitsstandards eingehalten worden sind. Sind die Verbrauchsangaben real oder manipuliert? Frau denkt bei Auslandsreisen über Prospektangaben nach und darüber, welche Bedeutung die Auszeichnungen mit 2, 3 oder 4 Sternen in dem Land haben, in das wir verreisen wollen? Wie ist die Stornierung im Krankheitsfall geregelt? Kann „mein“ Anwalt die Anzahlung zurückfordern?
Vor diesem Hintergrund ist eine EU-weite Verbraucherpolitik erforderlich.
Lieferketten: der Zusammenhang zwischen Verbraucherpolitik und Außenpolitik
Ergänzt werden muss die Verbraucherpolitik allerdings durch eine Wettbewerbspolitik und durch eine werteorientierte Außenwirtschaftspolitik. Verbraucherpolitik bezieht sich daher einerseits auf verschiedene Rechtsgebiete und Politikfelder nach innen in die EU und andererseits auf Bereiche der EU Außenpolitik. Es kann dabei nicht nur um die Produktqualität gehen, sondern auch um die Arbeitsbedingungen, unter denen sie hergestellt werden. Ist Kinderarbeit im Spiel? Werden minimale Arbeitsbedingungen und der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer*innen beachtet. Stammt das Produkt evtl. sogar aus Zwangsarbeiterlagern, wo Uiguren eingesperrt sind? Die Zivilgesellschaft und der deutsche Entwicklungshilfeminister der CSU und der Minister für Arbeit und Soziales von der SPD kämpfen schon lange um das sog. Lieferkettengesetz, das wenigstens elementare Mindeststandards gewährleisten sollte. (In Deutschland hat das Kabinett im März 2021 ein erstes Gesetz verabschiedet, das ab 2023 gelten soll, wenn, ja wenn ein Unternehmen 3000 Beschäftigte hat).
1. Entwicklung der EU Verbraucherpolitik: Grundsätze und Instrumente
Wie in anderen Politikfeldern auch ist die Geschichte der EU Verbraucherpolitik, die bis in die 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts zurückgeht, ein kollektiver Lernprozess in mehreren Schritten.
Der erste Schritt war die Gründung eines europäischen Büros der nationalen Verbraucherschutzverbände in Brüssel. Dieses Büro beriet die EU Kommission und sensibilisierte sie für die Anliegen der Verbraucher*innen.
Der zweite Schritt
In einem zweiten Schritt wurde im Vertrag von Maastricht von 1993 die EU Verbraucherpolitik rechtlich verankert. Ende der achtziger Jahre hatte der BSE Skandal um Rinder aus Großbritannien, die mit Tiermehl aus kranken Schafen gefüttert worden waren, begonnen. Die Erfordernisse der Kontrolle von Einfuhren aus Drittstaaten, insbesondere aus dem kommunistischen China hat das Bewusstsein für einen verstärkten Verbraucherschutz auf EU Ebene geschärft. Es hieß damals: „Die Verbesserung der Mündigkeit der Verbraucher sowie der wirksame Schutz ihrer Sicherheit und ihrer wirtschaftlichen Interessen sind inzwischen wesentliche Ziele der Politik der EU“.
Der dritte Schritt
Art. 114 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU (AEUV) von 2012 dient als Rechtsgrundlage für die Harmonisierungsmaßnahmen zur Errichtung des gemeinsamen Marktes. Er besagt u.a., dass „im Bereich des Verbraucherschutzes ein hohes Schutzniveau sichergestellt werden und mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und Entwicklungen Schritt gehalten werden muss“. Diese Hervorhebung ist in zweierlei Hinsicht sehr wichtig. Erstens bezieht sie sich explizit auf wissenschaftliche Erkenntnisse, vorrangig solche der Naturwissenschaften und der Medizin. Aber sie bezieht sich auch auf sozialwissenschaftliche Ergebnisse. Das sind z. B. Erkenntnisse zu den Möglichkeiten der Manipulation des Verbraucherverhaltens durch Werbung wie z.B. die Förderung von Suchtabhängigkeiten. Zweitens erkennt die Hervorhebung an, dass sich sowohl die Wissenschaften als auch die Produktionsmethoden und der Handel dynamisch weiter entwickeln und dass der Verbraucherschutz entsprechend Schritt halten muss.
EU-Verbraucherschutz zur Verbesserung der Lebensqualität
Art. 169 AEUV ist die Rechtsgrundlage für ein umfassendes Spektrum von Verbraucherschutzmaßnahmen: „Die EU leistet einen Beitrag zum Schutze der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihrer Rechte auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen“. Auch in anderen Politikbereichen müsse dem Verbraucherschutz stärker Rechnung getragen werden. Dies bedeutet, dass der Verbraucherschutz auf Aspekte der Politik in den Gebieten Ernährung, Lebensmittel, Wohnungswesen und Gesundheitsvorsorge ausgedehnt werden soll. Dies sei Teil der Strategie der EU, die Lebensqualität der Bürger zu verbessern.
Verbraucherschutz ist in der Grundrechte-Charta der EU verankert
2012 machen die Verbraucherausgaben 56% des Bruttoinlandsprodukts der EU aus. Die EU setzt mit Recht darauf, das Vertrauen der Verbraucher, die identisch sind mit den damals über 500 Millionen EU Bürgern, aktiv zu erhalten und auszubauen. Art. 36 der Charta der Grundrechte in Europa fordert dementsprechend, dass die EU ein hohes Niveau des Verbraucherschutzes sicherstellen muss. Damit wird der besondere Stellenwert dieses Politikfeldes im Vergleich zu anderen unterstrichen.
Europäische Verbraucheragenda gültig ab 2014
Am 3.Mai 2012 hat die EU Kommission einen Vorschlag für eine europäische Verbraucheragenda vorgelegt, die 2014 beschlossen wurde. Das Europäische Parlament war dabei eine treibende Kraft. Zentral in dieser Agenda sind 5 Maßnahmen:
- Förderung der Verbrauchersicherheit. Das Paket zur Produktsicherheit und Marktüberwachung von 2013 verlangt eine verbesserte Kennzeichnung der Produkte und eine genauere Rückverfolgbarkeit des Produktionsprozesses. Außerdem geht es um eine Verbesserung der Sicherheit im Verlauf der Kette der Lebensmittelproduktion und von Mitte 2013 gelten verschärfte Vorschriften über die Erzeugung von Kosmetika.
- Verbesserung der Kenntnisse der Verbraucher über ihre Rechte. „Consumer Classrooms“ als interaktive Tools der Information werden gefördert.
- Verbesserung der Durchsetzung der Verbraucherschutzvorschriften. Dabei geht es um die Überprüfung von Websites, in denen Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden. 2013 wird außerdem eine Richtlinie verabschiedet über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten. Weiter geht’s
- Einbeziehung der Verbraucherinteressen in die wichtigsten branchenbezogenen EU Strategien. Neue Rechtsvorschriften in den Bereichen Telekommunikation, digitale Technologien, Energie, Verkehr und Lebensmittel mit Schwerpunkt des immer wichtigeren Online-Handels. Außerdem werden Maßnahmen zur Verbesserung der Transparenz von Finanzdienstleistungen ergriffen. Hierbei geht es u. a. um die Erleichterungen des Kontowechsels von einer Bank zur anderen.
- Maßnahmen zur Verbesserung der Mündigkeit der Verbraucher. Es wird ein jährliches Barometer zur Überwachung der Lage der Verbraucher eingeführt.
Zwei Richtlinien
Im April 2018 hat die EU Kommission unter dem Schlagwort „New Deal for Consumers“ zwei Richtlinien vorgeschlagen: dabei geht es um die Anpassung des Verbraucherschutzes an die neuen Gegebenheiten insbes. des Online-Handels. Reformiert werden in dieser „Verbraucherschutzmodernisierungsrichtlinie“ (2019/2161/EU) u.a. die Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken (2005/29/EG), die Verbraucherrechterichtlinie (2011/83/EU), die Richtlinie über missbräuchliche Vertragsklauseln (1995/13/EWG) und die Richtlinie über Preisangaben (1998/6/EG).
Ziele der Überarbeitung bzw. Anpassung
Ziel ist es einerseits, für mehr Transparenz auf online-Marktplätzen und Vergleichsportalen zu sorgen. So werden die Anbieter verpflichtet, Informationen zum Ranking von Suchergebnissen zur Verfügung zu stellen. Es ist nämlich im Internet möglich, gegen Bezahlung bestimmte Produktinformationen ganz nach vorne zu puschen und kritische Bewertungen wegzudrücken! Dies ist für den normalen Nutzer und potentiellen Käufer nicht zu durchschauen. Deshalb stellt sich der EU Verbraucherschutz auf seine Seite und weist den Anbieter in seine Grenzen. Stellt er diese Informationen nicht zur Verfügung, wird dies als unlautere Geschäftspraktik gewertet. Diese Richtlinie muss bis zum 28. November 2021 in nationales Recht der Mitgliedsstaaten umgesetzt sein.
Es sei hier nochmal darauf hingewiesen, dass Richtlinien ein vergleichsweise zu Verordnungen ein schwaches Instrument sind (vgl. hier)
Ermöglichung von Sammelklagen durch die Verbandsklagen-Richtlinie
Die zweite Richtlinie dieses „New Deal for Consumers“ ist die Verbandsklagen-Richtlinie vom 11.4.2018 (COM(2018) 185 final). Ziel ist in diesem Fall, die Erleichterung von Sammelklagen bei massenhaften Verstößen gegen Verbraucherrechte. Aus den USA ist bekannt, dass dies Instrument den Verbraucher*innen hohe Entschädigungssummen erstreiten kann – ohne, dass sie persönlich einen Prozess anstrengen müssen.
Weitere Richtlinien für die digitale Welt
Außerdem hat die EU zwei Richtlinien zu den digitalen Inhalten und Dienstleistungen erlassen: EU/2019/770 und 771. In der erst genannten heißt es in Art. 7: „Die digitalen Inhalte sind vertragsgemäß, wenn sie hinsichtlich Beschreibung, Quantität und Qualität, der Funktionalität, der Kompatibilität, der Interoperabilität und sonstiger Merkmale den Anforderungen entsprechen, die sich aus dem Vertrag ergeben“. Umgangssprachlich übersetzt heißt dies, dass sich der digitale Inhalt friktionslos oder nahtlos, gemeint ist: ohne Umstände zu machen, in das beim Käufer vorhandene Umfeld einpassen muss. Hat er ein Programm zum Design eines Wohnmobils erworben, das er selbst bauen will, dann darf diese Software nicht die schon vorhandenen Programme einschränken, zerstören oder sonst wie beeinträchtigen. Diese Bestimmung ist von großer Bedeutung. Kauft man/frau ein Möbelstück, so ist es ein „stand – alone“ Produkt. Es steht für sich. Erwirbt jemand dagegen Software, so muss sie ohne Probleme in einem Netzwerk funktionieren.
Harmonisierung des Verbraucherschutzes durch ein Netzwerk
Schließlich soll erwähnt werden, dass die EU ein „Consumer Policy Network“ (CPN) unterstützt, in dem sie mit den Mitgliedsstaaten die Anwendung des EU Verbraucherrechts diskutiert. Auch dieses Netzwerk trägt zur Harmonisierung des Verbraucherschutzes im gemeinsamen Markt bei.
In der Periode 2014-2020 wird der Verbraucherschutz der EU mit Mitteln in Höhe von 188,8 Millionen Euro ausgestattet. Die Maßnahmen zeigen, dass die EU alle Instrumente, die ihr zur Verfügung stehen – Rechtsvorschriften, Einsatz finanzieller Mittel und spezifische Kommunikationen – einsetzt.
2. Konkrete Auswirkungen auf die Verbraucher
Um die Bedeutung der EU Verbraucherpolitik für den Alltag der Bürger*innen anschaulich zu machen, sollen die Schutzvorschriften am Beispiel der Familie Cresson – Lutterbach zu ihrer Sicherheit, zu ihren wirtschaftlichen Interessen und zu ihrem Wohlergehen Schritt für Schritt nachvollzogen werden.
Babette Cresson stammt aus der Provence in Frankreich, Franz Lutterbach aus Schwaben. Die beiden haben zwei Kinder, Francis vier Jahre und Kurt neun. Babette ist Französisch-Lehrerin an einem bilingualen Gymnasium in der Nähe von Stuttgart. Sie fährt mit dem Fahrrad zur Schule. Franz arbeitet bei einer Bank als Verkäufer von Wertpapieren. Er fährt, wie es sich in Baden-Württemberg gehört, einen Mercedes S Klasse.
Haustürgeschäft
Als Babette zu Hause ist, klingelt es an der Haustür: Darf ich Ihnen unseren neuen Staubsauger vorstellen? Sie haben so einen noch nie gesehen! Babette bittet den Verkäufer ins Haus. Nachdem er viele Komplimente über das moderne Haus und die fantastische Einrichtung gemacht hat, schüttet er aus seiner Hosentasche 15 Euromünzen auf den Teppich. Im Nu hat der Staubsauger sie aufgesaugt! Babette ist begeistert und unterschreibt den Kaufvertrag. Der Verkäufer übergibt ihr sodann ein nagelneues Exemplar.
Als Franz nachmittags nach Hause kommt, führt Babette ihm ihre Neuerwerbung begeistert vor. Er sieht den Preis und schaut im Internet nach. Er stellt fest, dass vergleichbare andere Staubsauger wesentlich billiger sind. Franz hält Babette einen Vortrag über die Tugenden der schwäbischen Hausfrau und sie widerspricht zunächst unter Verweis auf die tolle Leistung mit den Münzen. Doch dann willigt sie ein, den Vertrag rückgängig zu machen. Hier kommt die EU ins Spiel.
EU- Regelungen für Geschäftsabschlüsse außerhalb von Geschäftsräumen
Widerrufs-Recht bei Haustürgeschäften, Kaffeefahrten, Tupperpartys etc. Beim Betreten eines Kaufhauses ist sich der potentielle Käufer bewusst, dass er sich in einem Geschäft befindet. Im Unterschied dazu fühlt er sich bei einem Haustürgeschäft meist überrumpelt, da er gar keine Absicht hatte, etwas zu kaufen und sich auch nicht vorher informiert hat. Schon 1985 hat die Richtlinie 85/577/EWG deshalb ein 14-tägiges Rückgaberecht ohne Begründungspflicht gewährt. Die Verbraucherrechte-Richtlinie von 2011 – 2011/83/EU hebt den Begriff „Haustürgeschäfte“ auf und spricht noch allgemeiner von Geschäften außerhalb von Geschäftsräumen. Damit sind dann auch Geschäftsabschlüsse auf der Straße eingeschlossen. Franz ist froh, dass er den überteuerten Staubsauger ohne Probleme wieder los wird.
Rückgaberecht ohne Begründung
Die Familie Cresson-Lutterbach will demnächst auf der Insel La Gomera Urlaub machen. Franz hat online neue Wanderschuhe bestellt. Sie passen gut und sind vom Preis her relativ günstig. Babette aber findet, dass sie von der Farbe nicht zum Wanderzeug passen. Was tun? Die erwähnte Verbraucherrichtlinie aus dem Jahr 2011 regelt detailliert die Informationspflichten der Anbieter im online-Handel: Angaben zur Identität des Anbieters, zu seiner Erreichbarkeit, Ausweis des Gesamtpreises einschließlich Abgaben und Steuern, Ausweis der konkreten Zusatzkosten wie Versandkosten, Belehrung über das Widerrufs-Recht von 14 Tagen – ohne, dass der Käufer eine Begründung anführen muss. Zur Erleichterung des Widerrufs wird auch ein Musterformular zur Verfügung gestellt. Das Ehepaar Cresson-Lutterbach ist froh, dass sie ohne weitere Begründung die „unpassenden“ Wanderstiefel zurückgeben können.
Gewährleistungspflicht über zwei Jahre
Die Eltern haben für Sohn Kurt in einem Fachgeschäft ein neues Fahrrad gekauft, das Kurt gut gefällt. Er fährt einige Zeit damit und strapaziert es nicht übermäßig. Doch nach 7 Monaten bricht die Gabel des Vorderrades. Offenbar war sie nicht richtig verarbeitet und dieser Mangel muss schon zur Zeit der Lieferung bestanden haben. Was tun? Auch hier hilft der Verbraucherschutz der EU, nämlich die Richtlinie zur inzwischen zwei-jährigen Gewährleistung für alle erworbenen Waren -1999/44/EG, Art. 3 -: Der Verkäufer haftet für jede Vertragswidrigkeit, die zum Zeitpunkt der Lieferung bestanden hat.
In Deutschland galt vorher nur eine Gewährleistung von 6 Monaten.
Die Ausweitung der Gewährleistung ist in mehrfacher Hinsicht bedeutsam. Sie verpflichtet implizit den Hersteller zu einer besseren Produktqualität, da die gelieferten Waren jetzt mindestens 2 Jahre und einen Tag funktionsfähig sein müssen, will der Hersteller sich vor einer Rückgabe zu seinen Lasten schützen. Die Käufer sind nun wesentlich länger geschützt. Wenn das Produkt sich innerhalb der Frist von 2 Jahren bewährt hat, ist davon auszugehen, dass es auch länger gebrauchsfähig ist. Dieser Verbraucherschutz ist auch umweltpolitisch bedeutsam, da weniger „schneller Schrott“ anfällt. Das Ehepaar Cresson-Lutterbach kann daher das defekte Fahrrad zurückgeben und den Kaufpreis zurückverlangen. Sie müssen auch nicht erneut in diesem Laden kaufen.
Kostenlose Rückgabe von Elektrogeräten
Babette hörte oft französische Chansons auf ihrem Walkman. Es war für sie eine etwas nostalgische Verbindung zu ihrer Heimat. Nun ist das Gerät alt und funktioniert nicht mehr richtig. Wohin damit? Elektroschrott darf nicht im Mülleimer entsorgt werden. Wieder kommt die EU Verbraucherpolitik hilfreich ins Spiel, und zwar die „Waste of Electrical and Electronic Equipment (WEE)“ Richtlinie 2012/19/EU. Sie regelt die kostenlose Rückgabe elektrischer und elektronischer Geräte am Ende ihrer Lebensdauer an den Händler. Dies dient der fachgerechten Entsorgung und damit dem Umweltschutz. Der Hersteller ist zur Kostenübernahme verpflichtet.
Sauberes Trinkwasser: die Trinkwasserrichtlinie
Im Urlaub auf Gomera versorgt sich die Familie in dem gemieteten Appartement selbst. Die Trinkwasserrichtlinie 98/83/EG wurde Ende 2019 überarbeitet und den neuen Gegebenheiten angepasst. Sie schreibt vor, die Anlagen zur Entnahme, Aufbereitung oder Verteilung von Wasser dürfen
- den Schutz der menschlichen Gesundheit weder direkt noch indirekt gefährden
- die Färbung, den Geruch oder den Geschmack des Wassers nicht beeinträchtigen
- nicht zur Vermehrung von Mikroorganismen beitragen und
- nicht dazu führen, dass Kontaminanten in höherer Konzentration in das Wasser gelangen als aufgrund des verfolgten Zwecks unbedingt nötig.
Festlegung von Mindesthygieneanforderungen
Die einheitliche Umsetzung durch die Festlegung von spezifischen Mindesthygieneanforderungen für die Materialen der Systeme der Wasserversorgung sind hierdurch geregelt. Außerdem werden spezifische Anforderungen an Grenzwerte z.B. für Blei – alte Bleirohre – und für Mikroplastik formuliert.
Die Familie Cresson-Lutterbach kann also ganz beruhigt Wasser aus dem Wasserhahn in La Gomera trinken, denn es ist davon auszugehen, dass die spanische Regierung die EU Richtlinie gewissenhaft umgesetzt hat. Das Gleiche gilt für die Wasserqualität in der Provence in Frankreich, wo die Großeltern von Francis und Kurt leben und für die Wasserversorgung in deren Heimat.
Abschaffung der Roaming-Gebühren
Alle Familienmitglieder wollen natürlich im Urlaub Kontakt halten zu Freunden und Bekannten und Verwandten. Es wird also fleißig telefoniert, „geWhatsAppt“ oder gechattet. Früher machten sich die Telekommunikationsunternehmen diese Situation zu Nutze und verlangten sehr hohe Roaming-Gebühren. Die EU hat derartige Roaming-Gebühren, also Gebühren von einem Telefonnetz in ein anderes in Europa, vollständig abgeschafft. Auch dies entlastet den Geldbeutel der Familie Cresson-Lutterbach. Vor allem hilft es, die wichtigen Kontakte auch im Urlaub weiter aufrecht zu erhalten.
Regelungen für Verspätungen der Verkehrsträger
Sie genossen den Urlaub, lediglich auf dem Rückflug gab es Stress. Die Maschine nach Stuttgart kam schon zu spät auf Teneriffa an. Am Ende war die Familie mit mehr als dreieinhalb Stunden Verspätung in Stuttgart. Franz hat sich sofort nach seinen Rechten erkundigt. Die EU Fluggastrechteverordnung 2004/261/EG regelt, dass bei einem innergemeinschaftlichen Flug von mehr als 1500 km und einer Verspätung von mehr als drei Stunden jedem Fluggast eine Entschädigung von 400 Euro zusteht. Familie Cresson-Lutterbach erhält also 1600,-Euro als Kompensation für die mangelnde Pünktlichkeit der Fluggesellschaft. Diese Regelung der EU dient nicht nur dem Verbraucherschutz. Sie hat, wenn alle betroffenen Flugreisenden von ihren Rechten Gebrauch machen, einen disziplinierenden Effekt für die Fluggesellschaften. Wollen sie die Einbußen durch Entschädigungszahlungen vermeiden, müssen sie sich anstrengen, pünktlicher zu werden.
Sicherheitsstandards für Flugzeuge: EU Air SAFETY List (ASL)
Die Fluggesellschaft, mit der sie unterwegs waren, entspricht den Sicherheitsstandards der EU, sodass unsere Familie sich diesbezüglich keine Sorgen machen musste. 2002 wurde die Europäische Agentur für Flugsicherheit mit Sitz in Köln gegründet. Neben den 28 EU Mitgliedsstaaten gehören ihr auch die Schweiz, Norwegen, Island und Lichtenstein an. 2019 stehen auf der „Schwarzen Liste“ – EU Air Safety List – 120 Airlines, die nicht die europäischen Sicherheitsstandards erfüllen. Sie dürfen deshalb weder in der EU landen noch, was ja denn auch logisch ist, in der EU starten.
Strengere Grenzwerte: Richtlinien über die Sicherheit von Spielzeug
Zum letzten Weihnachtsfest bekam Francis von den Großeltern eine Puppe geschenkt. Die Puppe kam aus Rotchina. Wie verlässlich ist die dortige Produktion in Bezug auf Umweltgifte bei der Verarbeitung? Die Spielzeugrichtlinie 2009/48/EG, in Kraft seit 2011 und Ersatz der Vorläuferrichtlinie aus dem Jahre 1988 wurde 2014 weiter verschärft. 2014/79/EG legt die Grenzwerte der Stoffe TCEP, TCCP und TDCP fest, die maximal in Spielzeug vorkommen dürfen – dieses sind Stoffe, die im Verdacht stehen, Krebs zu erzeugen. Eine weitere Richtlinie 2014/81/EG legt die höchstzulässige Menge von Biphenol A auf 0,1mg/l fest. Kleinste Mengen dieses Stoffes im menschlichen Körper führen zu Diabetes, Fettleibigkeit, Entwicklungsstörungen bei Kindern und Unfruchtbarkeit. Die Richtlinie 2014/84/EG bestimmt, dass Nickel nur unterhalb festgelegter Grenzwerte in Spielzeug eingesetzt werden darf.
Was bedeutet das für das Kind hier in Europa?
Francis darf also unbedenklich mit ihrer Puppe kuscheln. Denn werden die Werte nicht eingehalten, dürfen die Produkte nicht importiert werden. Die schnelle Abfolge der Richtlinien mit jeweils verschärften Grenzwerten verdeutlicht die Wachsamkeit der EU Institutionen gegenüber Gefährdungen, hier des Kindeswohls.
Mehr Länder profitieren, als in der EU zusammengeschlossen sind
Im Jahr 2017 haben EU-Kontrolleure mehr als 2200 mal Produkte aus Verkaufsregalen holen müssen. Über 630 davon – fast 30% – betrafen Kinderspielzeug und zusätzlich 5% Babyartikel. 32 Länder haben sich diesem Verbraucherschutzsystem angeschlossen. Ein eigenes „Schnelles Austauschsystem für Informationen“ sorgt dafür, dass die entdeckten Mängel schnellstmöglich all die 32 Länder erreichen. Obwohl die meisten Beschwerden Produkte aus dem kommunistischen China und aus Hongkong betreffen und die EU-Kommission eng mit den Behörden dort zusammen arbeitet, sei Besserung dennoch nicht in Sicht. Gegenmaßnahmen sind: 1. Verbot des Verkaufs, 2. Erzwingung des Rückrufs, 3. Importstopp durch die Zollbehörden. (RZ, 18.3.2018)
Verschärfung der Bestimmungen für Lebensmittelsicherheit
Die schon erwähnte Tierkrankheit BSE, landläufig als „Rinderwahn“ bezeichnet, führte zur Verschärfung und Präzisierung des Lebensmittelrechts. Bis 2006 waren 177 Menschen in England daran gestorben, 4 Millionen Rinder wurden notgeschlachtet und 180 000 verendeten (Dtldfunk.de, 3/2016). Als Reaktion auf BSE sowie den Dioxin-Skandal erließ die EU die Verordnung 178/2002/EG zum allgemeinen Lebensmittelrecht. Die EU errichtete eine europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA), die insbesondere das Notfall- und Krisenmanagement organisieren soll.
Gütesiegel helfen zusätzlich
Vergleichsweise harmlos erscheint gegenüber BSE das im europäischen Lebensmittelrecht enthaltene Verbot der Verwendung von Menschenhaar in der Zubereitung von Brötchen. Dies ist sicher aus ästhetischen Gründen zu begrüßen, es bleibt aber schwierig zu verstehen, das Schweineborsten weiterhin erlaubt sind. Kurt denkt nicht an Schweineborsten, wenn er am Morgen in ein knuspriges Brötchen mit Nutella beißt, er freut sich auf seine Freunde in der Schule. Seine Mutter Babette ist da schon eher pikiert, obwohl sie weiß, dass die Haare bzw. Borsten nicht direkt im Brötchen stecken, sondern verarbeitet wurden, um den Teig geschmeidiger zu machen. Babette achtet beim Einkauf immer genau auf das Bio-Siegel, ein Gütesiegel für Produkte aus dem ökologischen Landbau, dessen Standards die EU Öko-Kontrollstelle überwacht. Die EU mit ihrer Überwachung von Gütezeichen achtet auch darauf, dass Parma-Schinken oder Schwarzwälder Schinken wirklich Schinken aus den angegebenen Erzeugergebieten sind.
Verschärfung der Bestimmungen zur Reinhaltung der Luft
In der EU Verordnung 715/2007/EG werden als Grenzwerte für den Stickoxyd Ausstoß für PKW für die Stufe fünf 60mg/km für Ottomotoren und 180mg/km für Diesel-PKW festgelegt. Ab 2014 gilt für die Stufe 6 bei Dieselmotoren eine Verschärfung, nämlich nur noch 80mg/km. Diese Festlegungen sollen helfen, die Luft in den Städten zu verbessern und damit die Bürger vor Atemwegs – Erkrankungen schützen. Franz Lutterbach fährt, wie es sich in seiner Branche geziemt, einen Mercedes. Weil er aber sehr sparsam ist aber auch viel unterwegs, hat er sich, als die Werbung mit dem „ad blue“ begann, einen Diesel zugelegt, denn der sollte ja nun sauber sein. Er ist mit dem Wagen zufrieden und vertraut auf dessen hoch gepriesene Umweltverträglichkeit. Bisher ist er sehr stolz auf „seinen guten Stern auf allen Wegen“ gewesen.
Ermittlungen zu Kartell-Absprachen
Mittlerweile hat sich aber herausgestellt, dass „der Daimler“ – „nur das Beste oder Nichts“ heißt es in der Werbung – bei den Abgaswerten geschummelt hat, um es milde auszudrücken. Es handelt sich inzwischen um einen weltweiten Skandal mit zigtausenden betroffenen Fahrzeugen. Und es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass fast alle Automobilhersteller als Betrüger in einem Kartell vereint sind. Die EU Wettbewerbskommissarin Margarete Vestager ermittelt gegen das Kartell.
Wie der Betrug funktioniert
Die Software zur Abgasreinigung ist so eingestellt, dass sie erkennt, wenn das Auto bei der Typenzulassung auf dem Rollprüfstand „fährt“. Dann werden die Abgase so gesteuert, dass sie die vorgegebene Norm einhalten. Im Straßenverkehr dagegen wird diese Steuerung abgeschaltet, so dass der Wagen nun ein mehrfaches der erlaubten Abgase ausstößt. Dies war bei VW Fahrzeugen so der Fall und der VW Vorstand hat zugegeben, die Motorensteuerung absichtlich manipuliert zu haben. Der Vorstand von Daimler in Stuttgart leugnet bisher die Manipulation. In den USA jedoch hat sich Daimler inzwischen in diesem Zusammenhang bereit erklärt, ein sehr hohes Bußgeld von 1,9 Milliarden US Dollar zu zahlen.
Verordnungen sind als unmittelbar geltendes Recht eine starke Stütze
Franz Lutterbach ist sehr verärgert, als er von diesen Betrügereien erfährt, denn „Deutschland rühmt sich immer seiner hervorragenden Ingenieure und die beim Daimler betrügen ihre Kunden!“ schimpft er. Da die EU – Verordnungen zu den Abgasgrenzwerten unmittelbar geltendes Recht in Deutschland sind, wendet er sich an eine der renommierten Verbraucherschutz-Rechtsanwaltkanzleien und beauftragt sie, seine Interessen wahrzunehmen. Er möchte das Fahrzeug zurückgeben und den Kaufpreis erstattet erhalten. Da er im Verhältnis relativ wenig mit dem Wagen gefahren ist, sind seine Chancen gut. Erste Entscheidungen von Oberlandesgerichten in vergleichbaren Fällen machen ihm Hoffnung. Aber bis dahin ist es wohl noch ein relativ weiter Weg.
Eine Genussraucherin
Babette Cresson rauchte gerne Zigaretten. Damit befand sie sich in „guter“ Gesellschaft, denn im Schnitt der EU Bevölkerung rauchen 26%, am meisten die Griechen mit 38% und am wenigsten die Schweden mit 11%. 94% der Raucher beginnen vor dem 25. Lebensjahr. Die Kinder Francis und Kurt jedoch haben sich wiederholt bei der Mutter beschwert, denn in der Wohnung blieb selbst beim Lüften der kalte Tabakrauch hängen. Als Babette erfuhr, dass der Tabakrauch mehr als 4000 Chemikalien enthält, 250 davon schädlich und mehr als 50 krebserregend, war sie doch schockiert. Dann erfuhr sie darüber hinaus , dass schätzungsweise 700 000 EU Bürger jährlich in Folge des Tabakkonsums vorzeitig sterben und dass Raucher im Schnitt 14 Lebensjahre verlieren und oft vor dem Tod sehr leiden müssen. Das brachte Babette schließlich ins Grübeln.
Eine Richtlinie zur Begrenzung des Gifts und eine zum Verbot von Werbung
Die Richtlinie 2001/37/EG legte Obergrenzen für Teer-, Nikotin- und Kohlenmonoxidgehalte in Zigaretten fest. Es war bekannt geworden, dass Zigarettenhersteller den Zigaretten Stoffe beigefügt hatten, die süchtig machen. Und die EU Richtlinie 2003/33/EG legte fest, dass Tabakwerbung im Internet, in Zeitungen und Zeitschriften sowie im Rundfunk verboten ist. Schließlich verfügte die EU – Tabakrichtlinie 2014/40/EU, die 2016 in Kraft trat, dass 65% der Vorder- und Rückseite der Zigarettenschachteln mit Schock -Bildern von erkrankten Rauchern – z. B. Raucherlunge oder Schwarze Zähne – und Warnhinweisen zu versehen sind. Besonders Jugendliche sollen vom Rauchen abgehalten werden. Der EUGH hat diese Verpflichtungen für Rechtens befunden. Deutschland war und ist höchst zögerlich in der Umsetzung dieser Richtlinie. Die EU schätzt, dass eine Verringerung des Tabakkonsums um lediglich 2% die Krankenkassen in der EU um jährlich mehr als 500 Millionen Euro entlasten würde (Angaben des EU Parlaments).
Auswirkungen auf Raucher*innen
Babette Cresson hat sich inzwischen sehr diszipliniert das Rauchen abgewöhnt und die Familie atmet auf. Die Tapeten wurden getauscht, alle Gardinen sind gewaschen, die Möbel abgewischt und die Luft in der Wohnung ist nun frisch.
Insgesamt haben sich die Antiraucherkampagnen der EU sehr positiv ausgewirkt – wenn auch in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. Das ist kein Wunder.. Deutschland z.B. hat sich lange gegen das Verbot von Zigarettenwerbung bzw. den verpflichtenden Aufdruck über die Schädlichkeit gewehrt. Trotzdem sinken die Zahlen endlich auch hier.
Richtlinie zu den Risikoklassen bei Geldanlagen, z.B. beim Wertpapierhandel
Franz Lutterbach muss in seinem Beruf täglich die EU-Direktive zum Wertpapierhandel (Markets Financial Directive) (MFID II) von 2018 beachten. Er stöhnt, denn die Direktive hat 7000 Seiten! Aber sie war notwendig geworden. Denn entgegen den ausdrücklichen Wünschen der Kunden zur konservativen Geldanlage hatten Wertpapierberater relativ oft risikoreiche Zertifikate verkauft, ohne dass der Kunde immer genau aufgeklärt worden war. Der Berater erhielt bei so einem Verkauf höhere Provisionen. Höheres Risiko bedeutet für den Kunden eventuell eine höhere Rendite aber gleichzeitig auch die relativ hohe Wahrscheinlichkeit eines Totalverlustes. Die EU-Direktive erweitert die Risikoklassen der Geldanlage von 5 auf 7 von „Sicherheit“ (1) bis zu „extrem spekulativ“ (7).
Dokumentationspflichten
In einer sorgfältig auszufüllenden Dokumentation sind die Wünsche des Kunden nun direkt nach erfolgter Aufklärung einzutragen. Diese Bögen müssen dem Kunden auch unmittelbar im Anschluss ausgehändigt werden. Früher gab es oft nachträgliche Eintragungen der Berater in die Bögen. Die sind jetzt nicht mehr möglich, es sei denn, der Kunde unterschreibt „blind“, d.h. ohne zu prüfen. Der Chef von Franz drängt ihn manchmal, die potentiellen Kunden doch in die risikoreicheren Anlagen „hinein zu quatschen mit der Aussicht auf hohe Renditen“. Doch Franz weiß von Prozessen, in denen Banken wegen Falschberatung zu Schadensersatzzahlungen verurteilt wurden. Er will sich nicht „die Finger verbrennen“, und konnte bisher den Pressions-Versuchen seiner Vorgesetzten stand halten.
Die erwähnte Direktive regelt auch, dass die Banken mehr Transparenz bei ihren Gebühren herstellen müssen. Diese Direktive dient daher durch die Verpflichtungen der Banken auch dem Verbraucherschutz gerade auch im Bereich der Finanzdienstleistungen.
3. Bewertung der EU Verbraucherpolitik
Bemerkenswert an der EU Verbraucherpolitik ist, dass sie sich sehr detailliert mit den Gefährdungen der Verbraucher*innen auseinandersetzt. Das betrifft sowohl deren Gesundheit, als auch ihre Sicherheit und auch ihr finanzielles Wohlergehen. Mit wissenschaftlicher Expertise gerade auch in der Chemie und der Medizin hat die EU die Substanzen in den Produkten analysieren lassen und dann Grenzwerte festgelegt. Die EU hat durch die Richtlinien und vor allem durch die Verordnungen nicht nur hohe Ziele formuliert, sondern sie hat z.B. in Bezug auf die Grenzwerte für den Schafstoffausstoß bei PKW unmittelbar geltendes und einklagbares Recht in den Mitgliedsstaaten geschaffen. Sie sorgt für die Sicherheit im Flugverkehr. In Bezug auf die Produktion von Kinderspielzeug hat sie detaillierte Grenzwerte festgelegt.
Sogar dem Umweltschutz kommt der Verbraucherschutz zugute.
Die EU hat durch die Ausdehnung der Gewährleistungszeiten und durch die Festlegung zur Rücknahme elektrischer Geräte nicht nur den Verbraucher*innen geholfen, sondern hat damit auch den Umweltschutz voran gebracht. Dabei muss sie immer schnell reagieren auf neue Produktgenerationen z. B. auf dem PC- oder Handy-Markt. Gerade auch in Bezug auf den Online-Handel, wo marktbeherrschende Konzerne wie Amazon weltweit Plattformen dominieren, sind die Richtlinien des „New Deal for Consumers“ zu begrüßen. Auch den Schutz vor Diskriminierung im Online-Handel hat die EU geregelt (von Dtld. noch nicht übernommen).
Weitere Schutzregelungen sind wichtig
Es darf bei diesen guten Regelungen nicht stehen bleiben. Die Verbraucher bedürfen verstärkt des Schutzes vor Hackern, die die Bankverbindungen ausspähen oder PCs lahmlegen und dann ein „Lösegeld“ erpressen. Grundsätzlich geht es immer wieder darum, die digitale Souveränität der Verbraucher sicherzustellen weit über den Datenschutz hinaus, für den die EU die Datenschutzgrundverordnung erlassen hat.
Die Verbraucherpolitik sowohl auf der Ebene der Nationalstaaten als auch auf EU Ebene geht von einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber den Anbietern von Gütern und Dienstleistungen aus. Und das ist auch richtig so: Man braucht nur an die großen Lebensmittelskandale und an die Abgasmanipulationen der Automobilhersteller zu denken.
Erfolge der Schutzregeln
Die EU Kommission hat große Online Plattformen aufgefordert, gegen Betrug und irreführende Angebote vorzugehen. Daraufhin seien Millionen derartiger Angebote entfernt worden! eBay beispielsweise habe 17 Millionen Einträge entfernt, die gegen EU Verbraucherschutzvorschriften verstießen. 88 Websites enthielten Produkte mit angeblich heilender oder präventiver Wirkung gegen das Corona Virus. 24 Websites standen unter dem Verdacht, mit unlauteren Praktiken überhöhte Preise erzielen zu wollen. 58 Websites ließen klare Angaben zur Identität des Anbieters vermissen. 62 weitere enthielten keine genauen Angaben zur geographischen Anschrift des Anbieters (Angaben des Bundesverbandes Verbraucherzentrale).
Die Familie Cresson-Lutterbach kann froh sein, dass ihr die EU Verbraucherpolitik in den Fährnissen des Lebens zur Seite stand und auch im digitalen Zeitalter weiter zur Seite steht.
Die EU – Verbraucherpolitik verdeutlicht am stärksten den Mehrwert der EU für jeden Einzelnen!
Noch mehr Aufklärung der Verbraucher*innen wäre hilfreich.
Die EU Verbraucherpolitik arbeitet vorrangig mit der Verfügung rechtlich verbindlicher Grenzwerte und mit Verboten. Es scheint, dass die Bildungsarbeit, die Aufklärung der Verbraucher*innen über ihre Rechte und ihre Erziehung zu „mündigen“ Verbraucher noch verbessert werden kann. Nur die wenigsten Fluggäste wissen z.B., welche Entschädigungsrechte sie bei großen Verspätungen haben. Die Förderung einer umweltbewussten Ernährung durch den Konsum von Bio-Produkten, durch weniger Fleischverbrauch, durch Mäßigung im Alkoholgenuss sollte den EU Bürger*innen stärker nahe gebracht werden. So könnte bewusster wahrgenommen werden, dass EU Verbraucherpolitik Teil des „Green Deal“ ist und in die Gesundheits- und Agrarpolitik ausstrahlt. Kitas und Schulen können eine Vorreiterfunktion einnehmen, um schon die Kleinen an diese für die Menschen wichtigen Themen heran zu führen.
Agenda 2030
Im Verbraucherpolitischen Bericht der Bundesregierung von 2020 wird eine Agenda 2030 skizziert: Dort wird als Perspektive für die Fortentwicklung der Verbraucherpolitik die Förderung einer nachhaltigen Produktions- und Konsumweise in den Blick genommen. Dazu sollen auch Anstrengungen für die Bereitstellung bezahlbarer Mietwohnungen, und bezahlbare Energie- und Telekommunikationsdienstleistungen gehören.
EU-Politik ist Innenpolitik.
Zum Abschluss eine Karte, die das weitgehend bildlich verdeutlicht.
Nicht im Bild, aber eingeschlossen in die Verordnung:
Die Kanaren: Lanzarote, Fuerte Ventura, Gran Canaria, Teneriffa, La Gomera, gehören zu Spanien
und Madeira und die Azoren gehören zu Portugal. Das heißt die Roaming Verordnung gilt dort auch.
Nicht integriert sind nur neuerdings England mit Nordirland,
die Schweiz und Kaliningrad als Teil von Russland (früher ostpreußisch),
sowie die Länder des Balkans, die darauf warten, eines Tages auch zur EU zu gehören.