Zur Neutralität und Ausgewogenheit verpflichtet

Der oberste Repräsentant des deutschen Volkes greift bedauerlicherweise zu einer einseitigen Stellungnahme. Der Bundespräsident nennt die umstrittene Pipeline North Stream 2 „eine Brücke“ zwischen Russland und Europa, um im Gespräch bleiben zu können. Zur „Rechtfertigung“ für den in Europa stark umstrittenen Bau der Pipeline bemüht er die unsägliche deutsche Geschichte.  Aber ohne diese im Detail zu benennen, spricht er nur von Russland. Und er setzt dies mit  der Sowjetunion (SU) gleich.  (Interview ) Er meint damit: weil „wir“ der SU = Russland so viel Leid angetan haben, sind „wir“ als Deutsche heute in besonderer Weise Russland  verpflichtet.

Andere Völker aber – die Russland geographisch nach Westen vorgelagert sind – haben in dem von Nazi-Deutschland angezettelten 2. Weltkrieg im Vergleich  damals einen viel höheren Blutzoll zahlen müssen als Russland.

Die Absicht von Putin

Gerade um diese Länder im Besonderen geht es jedoch bei der Pipeline. Denn Putin will deren Schicksal mit Hilfe der Pipelines North Stream 1 und 2, die durch die Ostsee gehen, instrumentalisieren bzw. in die Hand bekommen. Die beiden Ostsee-Pipelines umgehen diese Länder komplett.  Putin will diese osteuropäischen Länder, die ihre Energie aus der Ukraine-Pipeline beziehen, auf Gedeih und Verderb von Russland abhängig machen. Das ist eines der Mittel für ihn, um wieder Herrschaft über sie ausüben zu können. Die Ukraine verliert dann nicht nur die Durchleitungsgebühren, sondern er kann der Bevölkerung der Länder im Winter den Gashahn zu drehen – wie er es schon zweimal praktiziert hat. So kann er dann Druck auf deren Regierungen ausüben und sie sich gefügig machen.

Platz schaffen für „das Volk ohne Raum“

Als Hitler vor 80 Jahren das Sowjetreich  angreifen ließ, waren davon zunächst mal zwei lange Jahre  Polen, die Ukraine und Weißrussland betroffen. (Auch die baltischen Staaten, in denen  – aufgrund des Hitler Stalin Paktes – zunächst die Sowjets wüteten). Es ging dabei nicht nur um die Eroberung der Gebiete. Sondern das NS-Regime führte besonders in diesen drei Länder auch eine barbarische Vernichtungspolitik  aus. ImGeneralplan Ost“ hatten Hitler und seine Schergen diese Genozide an der dort ansässigen Bevölkerung  Monate vor Beginn des Angriffs so geplant.  Und mit Beginn des Krieges haben die führenden Nazis die Durchführung der Genozide angeordnet. Die deutschen Invasoren brannten die Häuser großflächig nieder und verwüsteten das Land. Und sie brachten vorsätzlich überall  20-25% der Bevölkerung um – Frauen, Kinder, Alte, die jüdischen Bewohner eingerechnet – ,   d.h. also rund ein Viertel der jeweiligen Bevölkerung.

Ersatz für die kämpfenden deutschen Männer

Dazu kamen die zwangsweise von dort nach Deutschland  Deportierten: Frauen und Männer ab 14 Jahren. Sie mussten hier die Wirtschaft am Laufen halten. Allein fast 2 Millionen Ukrainer*innen. Aufgrund von Mangelernährung  starben auch hier viele von ihnen. Zwar wurden sie alle „Ostarbeiter“ genannt, aber sie waren  keine Russen! Auch diese Zwangsarbeiter*innen wurden vom Bundespräsidenten nicht erwähnt. Um die Entschädigung dieser Menschen wurde zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland jahrelang gerungen. Auch sie sollten also im Gedächtnis unseres höchsten Politikers präsent sein. (vgl. hier ).

Die Idee von der Herrenrasse und der fruchtbare Boden weckte die Habsucht

Bis heute sind die von den Nazis geplanten Vernichtungsaktionen gegen die Bewohner*innen der Kornkammer Europas (die Ukraine) auch in der deutschen Bevölkerung kaum bekannt. Insofern wäre es sehr wünschenswert und es würde sich anbieten, wenn der Bundespräsident eine Expertenrunde von Rechtswissenschaftlern und Historikern dazu einladen würde, allen voran Diemut Majer, die den Generalplan Ost schon in den siebziger Jahren umfangreich erforscht hat. Das war in Deutschland besonders in der Rechtswissenschaft damals noch extrem unerwünscht. So konnte sie sich damit nur unter großen Schwierigkeiten im Ausland habilitieren und die Arbeit erst in den Achtzigern veröffentlichen. Außerdem würden sich Wolfram Wette und Timothy Snyder anbieten, um den Generalplan Ost und die Kriegführung des NS-Regimes in Osteuropa zu diskutieren und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen.