1. Entwicklung und Zuständigkeiten
Mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1952 wurde auch der Europäische
Gerichtshof errichtet. EUGH wird am Anfang wie die Eule, gesprochen, also nicht mit zwei einzelnen Buchstaben. Er nahm 1953 seine Arbeit in Luxemburg auf. Durch die römischen Verträge von 1957 wurde der EUGH zuständig für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und für EURATOM.
1989 wurde ein Gericht Erster Instanz geschaffen – seit dem Lissabon Vertrag 2009 „Europäisches Gericht“ genannt – zur Entlastung des EUGH. Seit 2009 ist der EUGH eine gemeinsame Einrichtung für die EU und für EURATOM.
Grundsätzlich geht es bei seinen Aufgaben um eine einheitliche Auslegung des Europäischen Rechts. Dabei hat der EUGH einige Besonderheiten zu berücksichtigen: Das Europäische Recht liegt vor in den derzeit 24 offiziellen Sprachen der EU und es gibt dabei keine „vorrangige“ Fassung.
Bei Widersprüchen zwischen Texten kommt der EUGH also mit einer Auslegung nach dem Wortlaut nicht weiter. Er behilft sich dann durch Rechtsvergleichung sowie durch die Frage nach dem Zweck der Norm – das ist eine teleologische Auslegung. Hinzu kommt, dass manche Normen in den Verträgen sehr allgemein gehalten sind, weil sie Ergebnisse schwieriger Kompromisse sind. Der EUGH fragt dann nach dem Sinn und Zweck der Norm und wie sie größtmögliche Effizienz entfalten kann. Dadurch soll es gelingen, die EU Kompetenzen klar zu umreißen.
Vertragsverletzungs- und Vorabentscheidungs- Verfahren
Der EUGH ist zuständig für Vertragsverletzungsverfahren, Art. 258 EU Vertrag. In einem solchen kann die Kommission einen Mitgliedsstaat verklagen, weil er z.B. eine Richtlinie nicht richtig umgesetzt hat. Nach Art. 259 EU Vertrag kann auch ein Mitgliedsstaat einen anderen vor dem EUGH verklagen, was aber nur selten vorkommen dürfte, weil eine derartige Klage die Zusammenarbeit belasten würde.
Besonders wichtig sind die Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 EU Vertrag: Letztinstanzliche Gerichte auf nationalstaatlicher Ebene wie der Bundesgerichtshof müssen dem EUGH Fragen zur Auslegung des Europäischen Rechts vorlegen, wenn sie für ihre Entscheidung von Bedeutung sind. Sie müssen dann ihr Verfahren aussetzen bis zur Entscheidung des EUGH.
Diese wird vorbereitet durch ein Gutachten des neutralen und unabhängigen Generalanwalts. Die Entscheidung ist dann für das nationale Gericht bindend. Diese Entscheidungen des EUGH sind formal nur bedeutsam für das anrufende Gericht. Tatsächlich weisen sie aber weit darüber hinaus, weil alle Mitgliedsstaaten gut daran tun, die Entscheidung zu beachten.
2. Wichtige Entscheidungen
In der Entscheidung „Van Gend versus Loos“ aus dem Jahr 1963 stellte der EUGH rechtsverbindlich für die gesamte EU fest, dass das Europäische Recht eine eigenständige Rechtsordnung darstellt, die vom Recht der Mitgliedsstaaten losgelöst ist. Damit ist klar, dass EU – Recht nicht gewöhnliches Völkerrecht ist. Wäre es Völkerrecht, würde dies darauf hindeuten, dass die EU ein Staatenbund würde. Konsequenz einer derartigen Feststellung ist, dass die EU Bürger Subjekte einer derartigen Rechtsordnung sind. Sie können sich unmittelbar auf die Rechte berufen, die sich aus der EU – Gesetzgebung ergeben. Hieraus ergibt sich die Doktrin der Direktwirkung des EU Rechts.
In der Entscheidung „Costa/ENEL“ bestimmte der EUGH den Vorrang des Europarechts gegenüber dem Recht der Mitgliedsstaaten- Dieser Vorrang gilt auch gegenüber dem Verfassungsrecht der einzelnen Staaten! Der EUGH argumentierte überzeugend, dass die Mitgliedsstaaten sich freiwillig einer eigenständigen Rechtsordnung unterworfen und nicht bloß ein politisches Zweckbündnis geschlossen haben. Schlagwortartig zusammengefasst heißt dies: „Europarecht bricht Landesrecht“.
Diese beiden Entscheidungen fundieren ein bundesstaatliches Verständnis der juristischen Verfassung der EU.
1979 in der wegweisenden Entscheidung für den gemeinsamen Markt „Cassis-de-Dijon“ wurde die wechselseitige Anerkennung nationalstaatlicher Produktstandards etabliert, es sei denn gravierende Einwände des Verbraucher- oder Umweltschutzes stehen dem entgegen.
Am 18. 6. 2019 entschied der EUGH (C 591/17 – Österreich/Deutschland), dass das deutsche Infrastrukturgesetz aus dem Jahr 2015 – Erhebung einer PKW Maut – ungültig, weil mit Europarecht unvereinbar ist. Das Projekt der CSU sah vor, das die Maut von allen Nutzern der deutschen Straßen erhoben wird, dass aber gleichzeitig deutsche PKW-Halter bei der KFZ-Steuer entlastet werden. Der EUGH sah darin mit Recht eine mittelbare Diskriminierung auf Grund von Staatsangehörigkeit.
Europäischen Grundrechtskatalog
Bis zum Vertrag von Lissabon gab es keinen rechtlich gültigen Europäischen Grundrechtskatalog. Seit 2009 wird dieser nun vom EUGH ausgelegt und in seinen Entscheidungen berücksichtigt. So hat der EUGH in seinem Urteil vom 1.10.2019 (Planet49) in einem Vorabentscheidungsverfahren, ausgelöst durch den Bundesgerichtshof, in Auslegung der Datenschutzgrundverordnung festgestellt: „Das Setzen von Cookies erfordert eine aktive Einwilligung des Internetnutzers“. Die vom Anbieter vor-ausgefüllte Zustimmung sei nichtig. Damit hat der EUGH das Grundrecht der Bürger auf Selbstbestimmung gestärkt.
Urteile zu Polen und zu Ungarn
Mitte 2019 urteilte der EUGH aufgrund einer Klage der EU Kommission, dass ein Teil der polnischen Justizreform nicht mit dem EU Recht vereinbar sei. Er erklärte die Zwangspensionierung von Richtern für illegal, weil die Herabsetzung des Rentenalters durch kein legitimes Ziel gerechtfertigt sei. Das diesbezügliche Gesetz sei daher mit dem Grundsatz der richterlichen Unabsetzbarkeit nicht vereinbar. Der Grundsatz dafür ist die Unabhängigkeit von Richtern. Die in Polen herrschende Regierungspartei PIS hatte mit ihrem Gesetz versucht, aus ihrer Sicht missliebige Richter los zu werden. Das Gesetz, das die Pensionsgrenze von 70 auf 65 Jahre herabsetzte, wurde aufgrund des EUGH-Urteils ausgesetzt. Die Richter nahmen ihre Arbeit wieder auf.
In einem weiteren Urteil vom April 2020 stellte der EUGH fest, dass die im Jahre 2018 eingerichtete Kammer zur politischen Disziplinierung von Richtern unverzüglich ausgesetzt werden müsse wegen fehlender Unabhängigkeit. Die Arbeit einer nicht unabhängigen Disziplinarkammer würde „einen schweren und nicht wieder gut zu machenden Schaden für die Unionsrechtsordnung verursachen“.
Am 18. Juni 2020 urteilte der EUGH, dass das ungarische NGO-Gesetz von 2017 gegen EU-Recht verstößt. Das Gesetz sah vor, dass Organisationen der Zivilgesellschaft Zuwendungen aus dem Ausland bekannt machen müssen. Darin sah der EUGH einen Verstoß gegen den Grundsatz des freien Kapitalverkehrs, sowie eine Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten. Das ungarische Gesetz zielte nach Meinung vieler Kritiker auf den US-Investor und Großspender George Soros. Victor Orban führt seit Jahren Kampagnen gegen den aus Ungarn stammenden Holocaust-Überlebenden. Dabei benutzt er auch antisemitische Klischees (Süddt. Ztg online, 18.6.2020)
Polen und Ungarn sind die beiden Länder in der EU, die dabei sind, den Rechtsstaat auszuhöhlen. Es ist offen, ob sie bereit sind, die Urteile des EUGH zu befolgen.
Urteil zum Datenschutz
Mit einer Entscheidung vom 16.7.2020 hat der EUGH die EU-US-Datenschutzvereinbarung „Privacy Shield“ von 2016 für ungültig erklärt, ebenfalls aus Gründen der informationellen Selbstbestimmung der Bürger. Wenn Facebook Daten seiner Nutzer aus Europa, in diesem Fall aus Irland, in die USA überträgt, ist es dort verpflichtet, sie auch den nationalen Sicherheitsbehörden wie NSA und FBI zur Verfügung zu stellen. Nach Ansicht des EUGH entsprechen diese Zugriffsmöglichkeiten in den USA nicht den Datenschutzanforderungen der EU.
Der EUGH als unabhängige Judikative der Europäischen Union hat durch seine Rechtsprechung das eigenständige und den Nationalstaaten übergeordnete Europarecht gefestigt und umfassend auch im Bereich des Grundrechtsschutzes ausgebaut. Daraus ergibt sich ein sicheres Fundament für die notwendigen weiteren Schritte der europäischen Integration.