1. Die geschichtliche Entwicklung und Struktur
1952 mit der Errichtung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl durch die 6 Länder Belgien, Niederlande und Luxemburg , Frankreich, Italien und Deutschland wurde der Vorläufer des Europäischen Parlaments, die „Gemeinsame Versammlung“(GV) gegründet. Sie bestand aus 78 Parlamentariern. Das waren von den Mitgliedsstaaten entsandte Abgeordnete. Die „Gemeinsame Versammlung“ hatte vorwiegend beratende Funktionen, wenngleich auch damals schon ein Misstrauensvotum gegen die „Hohe Behörde“ möglich war. Die GV tagte in Luxemburg. Das dortige Robert Schuman Gebäude ist heute Verwaltungssitz des Europäischen Parlaments.
Erste Direktwahl des Europäischen Parlaments
Seit 1979 wählen die Europäer*innen alle 5 Jahre in der gesamten EU das Europäische Parlament und zwar in der Größe, wie sie zum Wahltag besteht, in freien, geheimen und (nicht ganz) gleichen Wahlen. Dieses Parlament ist damit die einzige supranationale direkt gewählte Institution weltweit. Die letzte Wahl fand 2019 statt. Seit dem Vertrag von Maastricht von 1992 sind alle Staatsbürger*innen der Mitgliedsstaaten offiziell als Wahlbürger zugelassen. Im Land des Wohnsitzes kann jeder EU Bürger wählen, wenn er sich ins Wählerverzeichnis eintragen lässt. Er darf aber nur ein Mal an jeder Europawahl teilnehmen, entweder im Heimatland oder im Wohnsitzland. Das Alter für das aktive Wahlrecht liegt in fast allen Mitgliedsstaaten bei 18 Jahren, allein in Österreich (seit der Europawahl 2009) und in Malta (seit der Europawahl 2019) bei 16 Jahren.
Wo tagt das Europa Parlament?
Offizieller Sitz ist Straßburg. Dort tagt das Plenum 12 mal im Jahr, jeweils ca. vier Tage. Ursprünglich wurde einstimmig vereinbart, in Luxemburg zu tagen. Da sich die Räumlichkeiten für das Plenum aber als zu klein erwiesen, wich dieses damals in die Räume des Europarates nach Straßburg aus. Es besitzt dort aber inzwischen ein eigenes Gebäude (s. Foto oben). Frankreich war nicht nur Luxemburg geographisch am nächsten, sondern erschien den Entscheidern auch wegen der deutsch/französischen Aussöhnung als passend. In Luxemburg blieb dagegen das Generalsekretariat.
Weiterer Standort
Mit der Ausweitung der politischen Tätigkeiten (EWG ab 1957) wuchs jedoch der schon früher vorhandene Wunsch, Brüssel zum wichtigsten Standort der täglichen Arbeit zu machen. Dort finden seitdem die Ausschuss- wie auch die Fraktionssitzungen statt und auch Sondersitzungen (s. die 2 Fotos unten). Inzwischen gibt es auch dort einen Plenarsaal (s. Foto unten). Die Aufteilung auf die drei Orte ist jedoch nach langem Hin und Her seit 1999 vertraglich festgeschrieben. Zwar führt sie immer wieder zu Diskussionen, könnte aber nur einstimmig geändert werden.
Verhältniswahlrecht
Einheitlich gilt das Verhältniswahlrecht. In 15 Mitgliedsländern wird zur Ermittlung der Sitzverteilung das d´Hondtsche Höchstzahl – Verfahren angewandt, sonst sind es andere Verfahren. Am 13. Juli 2018 hat der Europäische Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments eine obligatorische Hürde für die Zuteilung eines Mandats von 2.5% – 5% der Stimmen vorgegeben. Diese wird in der Bundesrepublik wegen Verzögerungen bei der Ratifizierung frühestens bei der Wahl 2029 wirksam. Frankreich, Polen, Rumänien und Ungarn haben bereits jetzt eine 5% Hürde, Italien eine von 4%.
EU Parlament – Zusammensetzung
Um die kleineren Länder nicht von der Repräsentation im Europäischen Parlament auszuschließen, wurden die möglichen Parlamentssitze für die großen Länder begrenzt. Für die kleinen Länder legte man jeweils eine Mindestzahl von Sitzen fest. Diese Sitzverteilung entspricht also nicht vollständig der jeweiligen Bevölkerungszahl – deshalb ist von „nicht ganz gleichen Wahlen“ die Rede. Die folgende Übersicht bezieht sich auf die Verteilung der Sitze nach dem Brexit. (In Klammern sind die jeweiligen Zugewinne durch das Ausscheiden von Großbritannien – nicht all seine Sitze wurden verteilt.) Das Parlament wurde also verkleinert – auf jetzt 703 Sitze:
Belgien 21 Italien 76 (+3) Portugal 21
Bulgarien 17 Kroatien 12 Rumänien 33
Dänemark 14 Lettland 8 Schweden 21
Deutschland 94 Litauen 11 Slowakei 14
Estland 7 Luxemburg 6 Slowenien 8
Finnland 14 Malta 6 Spanien 59
Frankreich 79 (+5) Niederlande 29 (+3) Tschechien 21
Griechenland 21 Österreich 19 Ungarn 21
Irland 13 Polen 52 Zypern 6
Wahlbeteiligung
2019 waren in der EU, also noch mit Großbritannien, knapp 400 Millionen Bürger wahlberechtigt. Die Wahlbeteiligung lag gegenüber 42,61% in 2014 bei 50,66%. Also haben sich mehr als 200 Millionen aktiv an der Wahl beteiligt und damit ihr gesteigertes Interesse an der EU bekundet. Die höchste Wahlbeteiligung ergab sich in Belgien mit 88,47%. Dort herrscht Wahlpflicht. Die Slowakei wies die geringste Quote mit nur 22,74% auf. In Deutschland lag sie bei 61%, und damit weit über dem Durchschnitt und der Beteiligung vor fünf Jahren mit ca. 48%. Die Wahlen fanden fast überall am Sonntag statt. In Irland wurde am Freitag gewählt und in der Slowakei am Samstag. In Tschechien fand die Wahl Freitag und Samstag statt.
Schon seit Anfang der sechziger Jahre finden immer mehr Sitzungen der Parlamentarier, ihrer Ausschüsse, z.T. aber auch Plenartagungen in Brüssel statt, dann in diesem Saal rechts im Bild.
2. Die Zuständigkeiten
Ausweitung der Kompetenzen des Parlaments
Im Vertrag von Maastricht von 1992 wurde das Europäische Parlament in der ersten Säule, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, wesentlich gestärkt. Gemeinsam von Rat und Parlament wurden Verfahren der Mitentscheidung für weite Teile der Gesetzgebung festgelegt. Keines der beiden Organe kann das andere einfach überstimmen. Das Mitentscheidungsverfahren bezieht sich auf die Bereiche Umwelt, Verkehr, Binnenmarkt – hier besonders wichtig die Wettbewerbspolitik -, Beschäftigung und soziale Angelegenheiten, Bildung, Gesundheit und Bevölkerung und – ganz wichtig – Verbraucherschutz.
Zur Ernennung des Kommissionspräsidenten/ der Kommissionspräsidentin auf Vorschlag des Rats der Staats- und Regierungschefs wurde außerdem die Zustimmung der europäischen Volksvertreter im Parlament festgelegt. Ebenso bestätigt das Parlament die EU Kommission oder aber lehnt sie als Ganzes ab. Das hat dazu geführt, dass die einzelnen vorgeschlagenen Kommissare vorab vom Parlament „gegrillt“ werden. So hat das Parlament einen wesentlichen Einfluss auf die Zusammensetzung der „Regierung“ der EU, die Kommission.
Starke Ausdehnung der Gesetzgebungsbefugnisse
Im Vertrag von Lissabon von 2009 werden die Gesetzgebungsbefugnisse des Europäischen Parlaments auf 40 weitere Bereiche ausgedehnt, d.h. dem Ministerrat gleichgestellt. Zu den Bereichen gehören Landwirtschaft und Fischerei, Sicherheit und Justiz, Handelspolitik, Unterstützung der ärmeren Regionen, Zusammenarbeit mit Drittstaaten und Durchführungsrechtsakte. Die vielleicht wichtigste Gleichstellung bei allen Entscheidungen ist die über den gesamten Haushaltsplan der EU. Zusätzlich wurde dem Europäischen Parlament das Recht eingeräumt, internationale Vereinbarungen abzulehnen oder ihnen zuzustimmen. Bei den großen Handelsabkommen, die weltweit geschlossen werden, ist diese besonders wichtig. Dem Parlament wurde schließlich das Recht eingeräumt, Untersuchungsausschüsse einzurichten und vor dem Europäischen Gerichtshof zu klagen. Zwar fehlt dem Parlament noch das eigene Initiativrecht, aber es kann die Kommission auffordern, tätig zu werden. So kann es zum Vorreiter neuer Entwicklungen werden.
Die Bedeutung einiger Präsidenten
Hans-Gert Pöttering (CDU) war Abgeordneter im Europäischen Parlament seit der ersten Direktwahl 1979 und dessen Präsident von 2007 – 2009. Für ihn stellt der Vertrag von Lissabon einen Wendepunkt in der europäischen Geschichte dar. Die Entwicklung des Europäischen Parlament sei „von einer hauptsächlich beratenden Kammer zu einem ausgewachsenen Gesetzgebungsorgan“ gekennzeichnet. Das Parlament sei nunmehr in der Lage, „bei fast 2/3 der EU-Gesetzgebung Änderungen an den Kommissionsvorschlägen vorzunehmen – oder, wenn wir am Ende unzufrieden sind mit dem Text, ihn schlichtweg abzulehnen“ (Informationen des Europäischen Parlaments). Weitere erwähnenswerte Präsidenten des Europäischen Parlaments sind Simone Veil aus Frankreich, eine Holocaust-Überlebende, die von 1979-1982 als 1. Präsidentin des gewählten Parlaments amtierte. Und Martin Schulz (SPD) aus Deutschland – 2014-2017, der sich das Recht nahm, an Sitzungen des Rats der Staats- und Regierungschefs teilzunehmen, was inzwischen Gewohnheitsrecht ist. Da ist es hilfreich, dass das Parlament nicht nur in Straßburg, sondern auch oft in Brüssel tagt.
beide Bilder: Europäisches Parlament, Brüssel, gemeinfrei
Die Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament
Stand 1.2.2020, also ohne Großbritannien – nach Fraktionen ergibt sich aus folgender Übersicht:
– Europäische Volkspartei (Christdemokraten und Konservative) 187 Abgeordnete
– Sozialisten und Sozialdemokraten 146 Abgeordnete
– Liberale, Zentristen 98 Abgeordnete
– Rechtspopulisten, Rechtsextreme 76 Abgeordnete
– Grüne, Regionalisten 68 Abgeordnete
– Konservative, EU Skeptiker 62 Abgeordnete
– Linke(Kommunisten) 39 Abgeordnete
– Fraktionslose 29 Abgeordnete
Gesamt 705 Abgeordnete Quelle und Bezeichnungen: Wikipedia
Aufgaben des Präsidenten
Auch die beiden größten Fraktionen zusammen haben nicht mehr wie früher eine stabile Mehrheit, so dass Mehrheitsbildungen von Fall zu Fall in unterschiedlichen Zusammensetzungen notwendig sind. Ab 2019 ist David-Maria Sassoli aus Italien Präsident des Europäischen Parlaments. Er kommt von der Partito Democratico, also den Sozialdemokraten Italiens und ist seit 2009 Mitglied im Europäischen Parlament, von 2014 -2019 dessen Vizepräsident. Vorher war er in Rom Journalist u.a. bei der öffentlich-rechtlichen Rai und hat sich mit seinen unerschrockenen Beiträgen über die Mafia und die organisierte Kriminalität einen Namen gemacht. Er wird als „progressiver Katholik“ beschrieben. Angesichts der zum Teil unübersichtlichen Mehrheitsverhältnisse im Parlament kommt dem Präsidenten neben den Aufgaben der Sitzungsleitung auch eine politische Funktion bei der Suche nach Mehrheiten zu bestimmten Themen zu. Außerdem ist er ein direkter „Verbindungsmann“ zu dem Rat des Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer, an dessen Sitzungen er teilnimmt.
Das Ringen um Lösungen
Im Europäischen Parlament fehlt es daher im Vergleich zu anderen Parlamenten an dem Gegenüber von Regierungsmehrheit und Opposition. Die EU Kommission muss sich für ihre Gesetzgebungs- Vorschläge jeweils eine eigene Mehrheit suchen. Dadurch sind die einzelnen EU Abgeordneten unabhängiger als in anderen Parlamenten. Haben sie großes Verhandlungsgeschick und sind überparteilich gut vernetzt, so können sie auch über ihre Fraktion hinaus, großen Einfluss auf das Gesetzgebungsverfahren nehmen. Das Fehlen eines klaren Gegensatzes zwischen Mehrheit und Opposition ist daher in keiner Weise ein Manko im Sinne einer funktionsfähigen Demokratie. Im Gegenteil: Es stärkt das, was der Begriff „Parlament“ aussagt, nämlich das Ringen um Lösungen durch eine freie Debatte und den Austausch von Argumenten.
3. Die Kritik an den begrenzten Zuständigkeiten
Gerade nach der erheblichen Ausweitung der Gesetzgebungszuständigkeiten des Europäischen Parlaments durch die Verträge von Maastricht und insbesondere von Lissabon ist eine pauschale Kritik an mangelnden Zuständigkeiten nicht überzeugend. Richtig ist allerdings, dass dem Europäischen Parlament bisher das Initiativrecht in Bezug auf Gesetzesvorschläge fehlt. Außerdem kann es n i c h t eigene Vorschläge für Steuergesetze einbringen – wenn, dann sind diese nur im Zusammenwirken mit den Ministerräten zu beschließen. Die ist noch ein Manko, das bei nächster Gelegenheit beseitigt werden sollte.
Wirtschaftspolitik noch nicht ausreichend berücksichtigt
Nimmt man die beeindruckende lange Liste der Politikfelder, in denen das Europäische Parlament inzwischen Mitwirkungsrechte hat, so fehlt nur noch der allerdings essentielle Bereich der Wirtschaftspolitik. In einem Gastbeitrag vom 5.7.2020 für die FAZ hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) und langjähriger Bundesfinanzminister dafür plädiert, die Corona-Krise zu nutzen, um die EU von einer Währungs- zu einer Wirtschaftsunion auszubauen. Es brauche „heute den Mut, den wir in der Krise 2010 nicht hatten, um endlich zu mehr Integration in der Eurozone zu kommen. Wir dürfen die Chance nicht wieder verpassen. Die aktuelle Diskussion greife entschieden zu kurz, weil sie vorrangig um Aspekte der Finanzierung kreist, etwa darum, ob die geplanten Hilfsmittel als Zuschüsse oder Kredite fließen….Wir sollten sie aber viel stärker um die Frage führen, was wir konkret machen wollen, um Europa gemeinschaftlich voran zu bringen“.
Währungsunion allein nicht tragfähig
Schäuble verweist mit Recht auf die auch unter Ökonomen einhellige Meinung, dass eine Währungsunion ohne eine Wirtschaftsunion, also ohne einen europäischen Wirtschafts- und Finanzminister nicht stabil gehalten werden kann. Schäuble erinnert an die für die EU übliche Politik kleiner Schritte auch bei der Gründung der Eurozone. „Man einigte sich nach zähem Ringen darauf, mit der Währungsunion anzufangen, in der Erwartung, weitere Schritte zur Wirtschaftsunion würden folgen. Das ist nicht geschehen“. …“Während die Währungspolitik in der Eurozone vergemeinschaftet wurde, blieb die Wirtschaftspolitik in nationaler Verantwortung. Dabei hätten nicht nur Ökonomen gewarnt, dass die monetäre Union ohne eine politische Entsprechung auf Dauer nicht tragfähig sein würde“. …“Wir brauchen eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik.“ Außerdem müssten die Exzesse der Globalisierung korrigiert werden. Es müsse ein souveränes Europa in der Gesundheitspolitik aufgebaut werden.(Tagesschau.de. vom 6.7.2020).
Konjunkturpolitik muss zur Stabilisierung ermöglicht werden
Hieraus folgt, dass auf die EU die Zuständigkeit in der Wirtschafts-und Finanzpolitik übertragen werden muss – zumindest im Bereich der Eurozone. Zur Wirtschafts- und Finanzpolitik gehört neben der Wettbewerbspolitik, die schon bei der EU verankert ist, die Konjunkturpolitik mit den Möglichkeiten einer antizyklischen Fiskalpolitik. Es wäre ein großer Schritt vorwärts, wenn es gelingen würde, dass die EU Kommission im Zusammenhang mit ihrem Haushalt selbständig Schulden aufnehmen kann. Wenn sie diese gerade auch im Wirtschaftsabschwung zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona Krise einsetzen kann, dann wäre sie zum ersten Mal in ihrer Geschichte zu einer eigenständigen Wirtschafts- und Fiskalpolitik fähig. Es wäre dann „nur“ noch nötig, diese Art der Politik durch Verankerung in dem Zuständigkeitskatalog zu verstetigen. Daraus ergäbe sich in der Logik der bisherigen Integrationsentwicklung die Mit-Zuständigkeit des Europäischen Parlaments.
Krise nutzen, um Hohen Kommissar zu schaffen
Um eine derartige Entwicklung auf den Weg zu bringen, wird hier die Einsetzung eines „Hohen Kommissars für Wirtschafts- und Finanzpolitik“ gefordert. Dies wird in Analogie zu dem Hohen K. für Außen- und Sicherheitspolitik vorgeschlagen, aber mit strengerer Anbindung an das Parlament. Er muss neben der Kompetenz für eine EU Konjunkturpolitik die Kompetenz haben, die Wirtschafts- und Haushaltspolitik der einzelnen Mitgliedsländer zu überwachen. Falls notwendig, muss er sie koordinieren und zu Korrekturen aufrufen können. Dafür wird er die Aufwertung zum Hohen Kommissar benötigen.
Einwände
Nun wird möglicherweise eingewandt werden, dies sei reines Wunschdenken und derartige Reformen hätten zur Zeit keine Chance. Die populistischen/nationalistischen Bewegungen in vielen EU Mitgliedsländern würden dem entgegen stehen. Dagegen spricht:
Diese Bewegungen haben keine Mehrheit. Die Mehrheit der EU Bürger wünscht sich, mehr EU Zuständigkeiten im Gesundheitswesen, in der Umwelt- und Konjunkturpolitik.
Wichtige Fürsprecher
Die Wirtschaftsverbände sprechen sich für „mehr Europa“ aus, weil die Unternehmen ein großes Interesse an einem funktionsfähigen gemeinsamen Markt haben. Es ist ihnen klar, dass der gemeinsame Binnenmarkt zu seiner Funktionsweise einer stabilen Währung bedarf. Das beinhaltet resiliente Banken und eine europäische Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Die Unternehmen fürchten Krisenanfälligkeit und damit Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung.
Die Reformen sind notwendig. Sie ergeben sich aus der Logik des bisherigen Integrationsprozesses und aus den Krisenerfahrungen. Nur gemeinsam ist Europa stark. Ein starkes Europa gibt den Mitgliedsstaaten Kraft für ihre Aufgaben, nicht zuletzt zur Bewahrung ihrer kulturellen Identität.
Gegenteilige Kritik des Bundesverfassungsgerichtes
Das Bundesverfassungsgericht billigt dem Europäischen Parlament in seinem Urteil zum Lissabon Vertrag vom 20. Juni 2009 nur eine eingeschränkte demokratische Legitimation zu. Es sieht dessen Entscheidungskompetenzen bezüglich weiterer Schritte zu einer europäischen Integration skeptisch. In dem Urteil ging es hauptsächlich um die Anforderungen an das deutsche Zustimmungsgesetz zu dem Vertrag. Einerseits hebt das Gericht hervor, dass der Vertrag von Lissabon zum ersten Mal ausdrücklich das Ziel verfolgt, die demokratische Legitimation der Union zu erhöhen. Andererseits heißt es unter Randziffer 278: „Die EU bleibt auch als Verbund mit eigener Rechtspersönlichkeit das Werk souveräner demokratischer Staaten. Deshalb ist es nicht notwendig, das europäische Institutionen-System demokratisch in einer staatsanalogen Weise auszugestalten. Das Europäische Parlament muss nicht gleichheitsgerecht sein“. In der vorhergehenden Ziffer 277 heißt es: „Der Vertrag von Lissabon ändert demnach nichts daran, dass der Bundestag als Repräsentationsorgan des deutschen Volkes im Mittelpunkt eines verflochtenen demokratischen Systems steht“.
4. Die Replik auf diese Ausführungen muss auf mehreren Ebenen grundsätzlich erfolgen
- Die zitierten Ausführungen waren für die Beurteilung des Zustimmungsgesetzes unerheblich. Sie sind juristisch daher als „obiter dicta“ zu werten, als für die Entscheidung irrelevante Nebenbemerkungen.
- Das Bundesverfassungsgericht stellt en passant Behauptungen über die angeblich mangelnde demokratische Legitimation des Europäischen Parlaments auf. Aber es setzt sich mit den Begründungen für die unterschiedliche Gewichtung der Abgeordneten aus kleinen und großen Ländern nicht mal ansatzweise auseinander. Es lässt daher auch ein vertieftes Verständnis für die Geschichte der europäischen Integration vermissen. Und es ignoriert die Notwendigkeiten, die Union aus großen und kleinen Mitgliedsländern politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich zusammen zu halten.
- In Randziffer 280 heißt es apodiktisch: „Gemessen an verfassungsstaatlichen Erfordernissen fehlt es der EU auch nach dem Vertrag von Lissabon an einem durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenen politischen Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens“. Offenbar geht das Bundesverfassungsgericht bei seiner Kritik an der angeblichen mangelnden demokratischen Legitimation des Europäischen Parlaments damit von einer Verabsolutierung des Grundsatzes „One men/women, one vote“ aus.
Deshalb muss verglichen werden
- Selbst in Deutschland sind bei fast allen Gesetzgebungsverfahren des Bundes die Bundesländer über den Bundesrat beteiligt. Das Stimmengewicht der einzelnen Bundesländer im Bundesrat entspricht aber n i c h t der jeweiligen Bevölkerung, sondern privilegiert die kleineren Bundesländer wie Bremen oder das Saarland. Und nach der US amerikanischen Verfassung hat jeder Bundesstaat das Recht, zwei Senatoren in den Senat in Washington zu entsenden unabhängig von seiner Größe. Der Senat wirkt prominent an der Gesetzgebung in den USA mit. Insofern setzt sich das Ergebnis der Gesetzgebung immer aus zwei Quellen zusammen: aus dem direkt gewählten Parlament in Abstimmung mit einer zweiten Kammer, die nur indirekt das Wahlvolk repräsentiert.
- Nach herrschender Meinung verstößt eine derartige doppelte Repräsentation n i c h t gegen den im Grundgesetz festgeschriebenen Satz: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Damit kann demokratische Legitimation nicht nur dann gegeben sein, wenn jede bei einer Wahl abgegebene Stimme das absolut gleiche Gewicht hat. Im Übrigen verstößt z.B. eine 5% Klausel, die Wählerstimmen daran hindert, wirkmächtig zu werden, auch nicht gegen das demokratische Prinzip.
- Mit der Verabsolutierung des deutschen Bundestages als „im Mittelpunkt stehend“ versteigt sich das Bundesverfassungsgericht ohne Not zu hypothetischen Konstruktionen, die es so nicht gibt und die es abzulehnen gilt. Es tut so, als wenn der Vertrag von Lissabon einen europäischen Zentralstaat errichten wollte, der keine Kompetenzen für die Nationalstaaten übrig ließe. Im Gegensatz dazu sind alle Vorschläge zur Verstärkung der Kompetenzen für Europa immer geprägt von Aspekten föderaler Bundesstaaten.
Weitere Einordnung der höchstrichterlichen Urteile
Manche Kritiker dieser Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sowie auch der Entscheidung von 2020 zur EZB und ihren Anleiheaufkäufen sehen die Urteile als Versuch des Bundesverfassungsgerichts, sich in der „Konkurrenz“ zum Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu behaupten, denn letzterer wird immer bedeutsamer.
Sie betonen überdies, dass es für die EU jetzt vielmehr darum geht, sich im Konzert der Weltmächte zu behaupten. Die Dynamik der Weltpolitik und die dadurch entstehenden Herausforderungen erforderten dringend, mehr Kompetenzen auf die EU Ebene zu verlagern. ( vgl. dazu hier das letzte Kapitel der Institutionen unten, Punkt L).
Ergänzung vom Juli/August 2021
In der Entscheidung von 2020 zur EZB und ihren Anleiheaufkäufen maßte sich das oberste deutsche Gericht sogar an, die Entscheidungen des EuGH als „willkürlich“ und „schlechterdings nicht nachvollziehbar“ abzuqualifizieren.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts fällt Deutschland jetzt hart auf die Füße. Die EU Kommission hat Polen (und Ungarn) in ihrem gerade erschienenen zweiten Jahresbericht zur Lage der Rechtsstaatlichkeit erneut getadelt. Sie äußerst „ernste Besorgnis“ darüber, dass die polnische Regierung „richterliche Anordnungen des EuGH weiterhin nicht umgesetzt hat“. Da sie den Polen nun dazu ein Ultimatum gestellt hat, haben die Polen reagiert: Das oberste polnische Gericht „zitiert in seinen Urteilen genüsslich das Bundesverfassungsgericht, zum Teil sogar auf Deutsch“. Und wegen solcher Außenwirkung ergeht jetzt genau im EZB – Fall ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland. Denn Brüssel kann sich einen solchen „ernstzunehmenden Präzedenzfall“ nicht leisten. Sonst drohe ein „Europa à la carte“. (Die Zeit, 29.7.2021)