Pestizide versus Pflanzenschutzmittel

Unter dem Namen Pestizide fassen Umweltschützer alle Gifte zusammen, die vor allem in der Landwirtschaft auf die Äcker gespritzt bzw. gegeben werden. Die Landwirte dagegen oder die Chemieunternehmen, die die Stoffe herstellen bzw. ausbringen, sprechen von „Pflanzenschutzmitteln“. Sie sollen die angepflanzte oder gesäte Nahrung vor Beiwuchs schützen, aber auch vor Schadinsekten und vor Pilzkrankheiten.

Zunächst empfanden alle die Erfindung der Chemie als großen Fortschritt. Es galt, eine größer werdende Bevölkerung zu ernähren und Ernteausfälle zu vermeiden. Die Gesellschaft konnte beide Ziele mithilfe der entstehenden Chemie-Industrie erreichen. Die Firmen entwickelten Herbizide, Fungizide und Insektizide. Und Bauern hatten ein sichereres Leben.

Bald nach dem 2. Weltkrieg jedoch begann die Bewusstwerdung über die Schädlichkeit der Ackergifte, die schon in den sechziger Jahren in der Muttermilch nachweisbar waren. Seitdem gibt es Untersuchungen, Diskussionen und Bemühungen, die Ausbringung der Gifte zu reduzieren. Im Fall von DDT, das auch den Nachwuchs eierlegender Tiere in der Natur gefährdete, gab es sogar Verbote und die Entwicklung – angeblich – weniger gefährlicher Stoffe.

Aber seitdem polarisieren Pestizide die Diskussion

Die Menge der ausgebrachten Giftstoffe sinkt nicht etwa. Sondern sie steigt jährlich trotz der vielen sichtbaren Zeichen, dass die Natur sich durch die kontinuierliche großflächige Ausbringung sehr stark verändert. Zwischen 1999 und 2019 – also innerhalb von 20 Jahren – ist die Menge der verwendeten Pestizide weltweit um etwa 35% gestiegen. Besonders hoch ist der Anstieg in den Ländern des globalen Südens. In Südamerika hat sich die Menge sogar verdoppelt. Dementsprechend sind Pestizidvergiftungen bei Landarbeitern in diesen Ländern besonders häufig und stark, in Südasien sogar häufig tödlich.  Aber auch in den USA und Europa ist die Menge der ausgebrachten Gifte noch gewachsen.

Umweltausschuss will mehrheitlich „a drastic cut“   

Nun ist es in der EU endlich gelungen, das Thema  -Sustainable Use Regulation  (SUR) –  nicht nur auf die Tagesordnung zu setzen, sondern auch einen Fortschritt zu erzielen. Die Pestizid-Verordnung hat im Umweltausschuss des EU-Parlaments eine deutliche Mehrheit bekommen. Danach soll der Einsatz der Pestizide bis 2030 um die Hälfte reduziert werden. Und das Ziel zur Reduzierung besonders gefährlicher Pestizide wurde sogar angehoben auf 65% bis 2030 (a drastic cut).

Natürlich ist das Gesetz damit noch nicht in Kraft. Es muss noch durch verschiedene Gremien. Aber die Mehrheit der Mitglieder hat die Verordnung jetzt  – im Gegensatz zu dem Glyphosat-Verbot – auf den Weg gebracht. Allerdings ist die Verordnung aus Sicht von Umweltverbänden keineswegs perfekt. Denn es kommt auf die Art der Messmethoden an. Und die werden schon seit langem stark kritisiert, sogar vom Bundesumweltamt.

Ein guter Schritt nach vorn

Die Verordnung ist dennoch ein ermutigender Schritt nach vorn für die europäische Landwirtschaft – auch wenn vor allem die Großagrarier das vermutlich nicht so sehen. Aber aus Sicht der geschundenen Natur ist die Verordnung dringend notwendig. Die kleineren Landwirte sehen das auch so. Die bisher geltenden Reduktionspläne haben nach Ansicht der Naturschützer keinen ausreichenden Schutz für die Artenvielfalt gebracht.

Und die Verbraucherschützer finden in 94% der untersuchten Proben im deutschen Handel Pestizidreste. Am meisten in Weintrauben und Erdbeeren: 98% Fungizide. Aber erschreckender Weise auch in Äpfeln: 96%. In Paprika, Tomaten und Eisbergsalat immerhin noch zwischen 82 und 87%. Bezogen auf die Gesamtanbaufläche dieses Obstes bzw. Gemüses macht allerdings z.B. der Anbau von Trauben in der EU nur 2,9% aus. Anders sieht es u.U. im Weinbau in  den Steillagen aus. Da sieht sogar der deutsche grüne Landwirtschaftsminister einen Bedarf oder sogar die Notwendigkeit, die Definition von sensiblen Gebieten hierfür zu überarbeiten.

Viele dieser Pestizide gehören ausgerechnet zu der Gruppe der PFAS, den sog. Ewigkeitschemikalien. Deren Abbauprodukt ist die  Trifluoressigsäure (TFA). Sie lässt sich inzwischen in Proben von  Oberflächengewässern sowie in Grundwasserproben in verschiedenen europäischen Ländern nachweisen.

Weitere Alternativen 

Wollte die EU vor allem die Menge des Pestizideinsatzes massiv verringern, müsste sie sich nach Ansicht von Foodwatch  auf  den Getreideanbau konzentrieren. Der Körneranbau allein fände in der EU auf 50% der Ackerfläche statt. Und Rückstände fänden sich dort zu 37%. In Weizenbrötchen hätten sie bis zu 90% Rückstände nachgewiesen. Aber die EU habe das bisher vernachlässigt. Eine Pestizidsteuer wie z.B. in Dänemark würde helfen. Oder ein Anbau wie in der Schweiz mit mehr Sortenvielfalt, größerem Abstand zwischen den Reihen, längeren Halmen, was Pilzbefall reduziert. (Webinar von Jutta Paulus, s.u.)

Insekten

Dass die Menge unserer Bestäuber und weiterer Insekten, die Nahrung für die Vögel sind, seit Jahren rückläufig ist, weiß inzwischen wohl auch jede/r, der sich dafür interessiert. Bei 41% aller Insektenarten ist die Population rückläufig. Davon sind nicht nur die Obstbäume stark betroffen, sondern mit 90% Ernteeinbußen auch Kürbisse und Wassermelonen,  Paranüsse und Kakao. Viele weitere unserer Obst-und Gemüsesorten erleiden zwischen 10-40% Ernteeinbußen.

Das weitere Prozedere

Der Agrarausschuss hatte schon entschieden. Er plädierte für eine Verzögerung vieler Bestimmungen bis 2035, um den wichtigsten Dissens zu nennen. Im November wird das Parlament abstimmen. Danach werden die Trilog-Verhandlungen beginnen. Vermutlich werden auch in den kommenden Verhandlungen noch Veränderungen vorgenommen werden.

Jutta Paulus, die umweltpolitische Sprecherin der Grünen Fraktion im EU-Parlament kommentiert: Wenn der Kompromiss im Wesentlichen so durch die weiteren Gremien kommt, wird das bedeuten „weniger  Gift auf unseren Äckern, weniger Gift in unserem Trinkwasser, und die Artenvielfalt wird geschützt. Weil, darum geht´s ja am Ende des Tages.“ (Podcast, Pestizide, wie geht´s jetzt weiter?)

Das dreifache Aus

erst fürs Glyphosat-Verbot und nun auch für die Pestizid-Verordnung

Im Dezember wäre die Zulassung für Glyphosat ausgelaufen. Aber am 16.11.23 wird mitgeteilt:

Die Kommission hat „im Alleingang“ entschieden, den Natur-Killer Glyphosat erneut für weitere 10 Jahre zuzulassen.

Und nun hat auch noch das EU-Parlament einen Strich durch die anderthalb Jahre langen Verhandlungen über die Pestizid-Verordnung gemacht. 700 Veränderungsanträge machten alle vorher erzielten Kompromisse zunichte.

Diese Verordnung wäre ein gewisser „Trost“ für die bereits ramponierte Insektenpopulation gewesen. Sie sollte zumindest die Menge der eingesetzten Gifte – also auch für Glyphosat bis 2030 auf die Hälfte reduzieren. Die Verhandlungsführerin, die Österreicherin Sarah Wiener, kommentierte: „Es ist ein schwarzer Tag für die Umwelt und Europas Landwirte!“

Aber nicht nur das verhindert jetzt eine rechtskonservative Front des EU-Parlaments. Die EVP (unter Webers Führung) hat mit allen Parteien rechts von ihr paktiert.) Sondern in einem weiteren Schritt hat sie im Anschluss an diese nieder-schmetternde Entscheidung sogar die Rücküberweisung in die betreffenden Ausschüsse verhindert. Das ist ein extrem seltener parlamentarischer Vorgang. Er bedeutet, dass das Parlament gegen weitere Verhandlungen stimmt.

Die unvermeidliche Konsequenz

Damit wird die mit dem Green Deal geplante Rettung der noch übrig gebliebenen Artenvielfalt vollends vor dem Aus stehen. Neben den Maßnahmen zu besserem Klimaschutz war der Erhalt der noch vorhandenen Biodiversität das zweite große Ziel des Green Deals.

Die Landwirtschaftsminister, die sich am 11.12.23 nochmal trafen, sind mit dem „Aus“ allerdings nicht zufrieden. Sie haben die Hoffnung ausgesprochen, dass die belgische Ratspräsidentschaft, die im Januar 2024 beginnt, die Verhandlungen doch noch wieder aufnimmt und auf einen Kompromiss vor dem Ende dieser Legislatur hinarbeitet.

Im Februar 2024 – während und nach all den Bauernprotesten in diversen Ländern – wird deutlich, dass auch die neuen Anläufe zur Begrenzung des Umfangs der Maßnahmen scheitern. Belgien versuchte, sie auf solche zu reduzieren, die sich auf biologische Schädlingsbekämpfungsmittel beziehen.

Die Kommissionspräsidentin hat jedoch den Gesetzentwurf zurück gezogen. Zwar bleibt es bei dem Ziel, den Pestizideinsatz bis 2030 zu halbieren, aber es gibt keinen Fahrplan mehr dafür, wie das geschehen soll. Ob es nach der Europawahl im Juni 2024 ggfs. einen neuen Anlauf geben wird, bleibt offen.  Aus der EVP heißt es jetzt, man fühle sich den internationalen Zielen zur Biodiversität verpflichtet, benötige aber einen „subsidiären Ansatz“. Soll das heißen, jedes Land soll für sich allein entscheiden?